NACHTRAG ZU: STRASSENVERKEHR – ZULÄSSIGKEIT UND VERWERTBARKEIT EINES DROGEN-SCHNELLTESTS

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

In unserem Newsletter vom 11. August 2017 wurde der Verweigerungsfall eines von der Polizei angeordneten Drogenschnelltests thematisiert. Der Drogenschnelltest hat den Vorteil, dass er nicht in einem Spital durchgeführt werden, sondern schnell und unkompliziert direkt vor Ort vorgenommen werden kann. Dannzumal kamen wir aufgrund eines Urteils zum Schluss, dass es sich beim Drogenschnelltest infolge des dazu erforderlichen konkre- ten Anfangsverdachts um eine strafprozessuale Zwangsmassnahme im Sinne von Art. 251 StPO handle, die gemäss Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO zwingend von der Staatsanwaltschaft anzuordnen sei. Läge demnach nur eine Aufforderung der Polizei zur Mitwirkung vor und fehlte es an einer entsprechenden Anordnung durch die Staats- anwaltschaft, bestünde für die betroffene Person keine Mitwirkungs- oder Duldungspflicht. Ohne das Bestehen einer solchen Pflicht fehlte es offensichtlich an einer Voraussetzung für die Erfüllung des Tatbestands von Art. 91a SVG. Ins Visier geratene Verkehrsteilnehmer hätten das Recht den von der Polizei angeordneten Drogen- schnelltest aufgrund eines Anfangsverdachts zu verweigern. Nur wenn die Massnahme durch den Staatsanwalt angeordnet würde – was im Normalfall per Telefon erfolgt –, wären Betroffene gehalten, den Test durchzuführen.

In der Zwischenzeit äusserte sich das Bundesgericht zu diesem Thema und kam zu einem anderen Schluss, der sich zuungunsten der Fahrzeuglenker auswirken kann. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung wird nachfolgend dargelegt.

I. VEREITELUNG VON MASSNAHMEN ZUR FESTSTELLUNG DER FAHRUN- FÄHIGKEIT (ART. 91A SVG)

Art. 91a SVG bedroht mit Strafe, wer sich als Motorfahrzeugführer vorsätzlich einer Blutprobe, einer Atemalko- holprobe oder einer anderen vom Bundesrat geregelten Voruntersuchung (Art. 10 SKV; Vortest im Urin, Speichel oder Schweiss), die angeordnet wurde oder mit deren Anordnung gerechnet werden musste, oder sich einer zusätzlichen ärztlichen Untersuchung widersetzt oder entzogen hat oder den Zweck dieser Massnahme vereitelt hat.

Die genannte Strafnorm setzt jedoch zunächst voraus, dass der Täter überhaupt verpflichtet war, sich einer sol- chen Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit zu unterziehen bzw. bei der Durchführung einer solchen Massnahme mitzuwirken. Eine Mitwirkungs- bzw. Duldungspflicht bei der Durchführung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit besteht nur bei einer gültigen Anordnung durch die zuständige Behörde.

II. URTEIL DES BUNDESGERICHTS 6B_598/2018 VOM 7. NOVEMBER 2018

Das Bundesgericht äusserte sich im Entscheid 6B_598/2018 vom 7. November 2018 zur zuständigen Behörde. Es hält fest, dass die Polizei gemäss Art. 10 Abs. 2 SKV zum Nachweis von Betäubungs- und Arzneimitteln na- mentlich im Urin, Speichel oder Schweiss Vortests durchführen kann, wenn Hinweise bestehen, dass die kontrol- lierte Person wegen einer anderen Substanz als Alkohol fahrunfähig ist und in diesem Zustand ein Fahrzeug gelenkt hat. Das Bundesgericht wies bereits in einem früheren Entscheid darauf hin, dass der Art. 10 Abs. 2 SKV eine Anordnungskompetenz der Polizei enthält (Urteil des Bundesgerichts 6B_563/2017 vom 11. September 2017 E. 1.5).

Die Polizei ist im Bereich des Strassenverkehrsgesetzes Sicherheits- bzw. Verkehrspolizei sowie Strafverfol- gungsbehörde im Sinne von Art. 15 StPO. Um die polizeiliche Tätigkeit einem dieser Bereiche zuzuordnen, ist der Einzelfall massgebend, wobei eine exakte Grenzziehung schwierig ist. Das Bundesgericht hält in diesem Zu- sammenhang fest, dass polizeiliche Kontrollen, die nicht auf einem hinreichenden Tatverdacht im Sinne von Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO beruhen, Handlungen im Rahmen der sicherheitspolizeilichen Kontrolltätigkeit darstellen.

Für die Durchführung eines Vortests nach Art. 10 Abs. 2 SKV reichen gemäss bundesgerichtlicher Rechtspre- chung bereits geringe Anzeichen für eine durch Betäubungs- oder Arzneimittel begründete Fahrunfähigkeit, wie ein blasser Teint oder wässrige Augen (Urteil des Bundesgerichts 6B_244/2011 vom 20. Juni 2011 E. 1.4).

Die Kontrollmassnahmen nach Art. 55 SVG verfolgen auch generalpräventive Motive. Art. 55 Abs. 2 SVG spricht sodann ausdrücklich von Voruntersuchungen, während gemäss Art. 309 Abs. 1 lit. a StPO für die Untersuchung ein hinreichender Tatverdacht erforderlich ist. Die nach Art. 10 Abs. 2 SKV erforderlichen Hinweise, dass eine Person wegen einer anderen Substanz als Alkohol fahrunfähig ist und in diesem Zustand ein Fahrzeug gelenkt hat, ist nicht mit dem hinreichenden Tatverdacht im Sinne von Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO gleichzusetzen. Das Bundesgericht kommt demgemäss zum Schluss, dass die Polizei im Rahmen der sicherheitspolizeilichen Tätig- keit befugt ist, einen Vortest nach Art. 10 Abs. 2 SKV anzuordnen. Je nach den konkreten Umständen und dem Ergebnis des Vortests ergibt sich daraus ein hinreichender Tatverdacht im Sinne von Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO, der zu einer gemäss Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO durch die Staatsanwaltschaft anzuordnenden Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit aufgrund des Verdachts einer Widerhandlung gegen das SVG führen kann (z.B. Blutentnahme).

III. FAZIT

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Polizei befugt ist, einen Drogenschnelltest anzuordnen. Dies ist jedoch nur im Rahmen der sicherheitspolizeilichen Tätigkeit zulässig. Liegt aufgrund der konkreten Um- stände sowie des Ergebnisses des Vortests ein hinreichender Tatverdacht vor, kann dies zu einer nach Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO durch die Staatsanwaltschaft anzuordnenden Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit aufgrund des Verdachts einer Widerhandlung gegen das SVG führen. Ein Drogenschnelltest ist somit nicht wie im Newsletter vom 11. August 2017 festgehalten zwingend durch die Staatsanwaltschaft anzuordnen, sondern nur wenn ein hinreichender Tatverdacht vorliegt.

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30. August 2019 / lic. iur. Stephan Hinz


STRASSENVERKEHR – ZULÄSSIGKEIT UND VERWERTBARKEIT EINES DROGENSCHNELLTESTS

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt unter Mithilfe von Sabrina Engel (MLaw)

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

In unserem Newsletter vom 21. Dezember 2015 wurde in Anlehnung an den Entscheid des Aargauer Obergerichts vom 20. Oktobers 2015 die Rechtsfolge bei Verweigerung einer Blut- und Urinuntersuchung, die von der Polizei – anstelle der Staatsanwaltschaft – im Anschluss an einen positiven Drogenschnelltest angeordnet wurde, thematisiert (unterdessen bestätigt in BGE 6B_532/2016 vom 15.12.2016). Konkret hat das Obergericht entschieden, dass die Strafbarkeit nach Art. 91a SVG – Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit – aufgrund fehlender Zuständigkeit der Polizei verneint werden muss. Was gilt jedoch im Verweigerungsfall eines von der Polizei angeordneten Drogenschnelltests? Im Gegensatz zur Blut- und Urinprobe muss dieser Test nicht im Spital durchgeführt werden sondern kann direkt vor Ort vorgenommen werden. Schnell und unkompliziert. Muss die anwesende Polizei dennoch auch in diesem Fall zunächst den pikettdiensthabenden Staatsanwalt anrufen, damit dieser anschliessend die Durchführung des Drogentests anordnen kann? Diese Frage wird im Sinne einer Fortsetzung unsers ersten Newsletters nachfolgend beantwortet.

I. VEREITELUNG VON MASSNAHMEN ZUR FESTSTELLUNG DER FAHRUNFÄHIGKEIT (ART. 91A SVG)

Art. 91a SVG bedroht mit Strafe, wer sich als Motorfahrzeugführer vorsätzlich einer Blutprobe, einer Atemalkoholprobe oder einer anderen vom Bundesrat geregelten Voruntersuchung (Art. 10 SKV; Vortest im Urin, Speichel oder Schweiss), die angeordnet wurde oder mit deren Anordnung gerechnet werden musste, oder sich einer zusätzlichen ärztlichen Untersuchung widersetzt oder entzogen hat oder den Zweck dieser Massnahme vereitelt hat. Damit will diese Bestimmung verhindern, dass derjenige Fahrzeuglenker, der flüchtet oder sich anderweitig der Alkoholkontrolle bzw. auch einer Drogenkontrolle entzieht, besser gestellt ist als derjenige, der die Untersuchung der Polizei bzw. des Arztes über sich ergehen lässt (Urteil des Bundesgerichts 6B_229/2012 vom 5. November 2012 E. 2 mit Hinweisen).

Die genannte Strafnorm setzt jedoch zunächst voraus, dass der Täter überhaupt verpflichtet war, sich einer solchen Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit zu unterziehen bzw. bei der Durchführung einer solchen Massnahme mitzuwirken. Denn es ist selbstredend, dass nicht jedermann voraussetzungslos verpflichtet ist, sich jederzeit einer Blut- oder einer Speichelprobe zu unterziehen. Vielmehr bedeuten die entsprechenden Untersuchungsmassnahmen immer auch einen Eingriff in geschützte Grundrechtspositionen.

Eine Mitwirkungs- bzw. Duldungspflicht bei der Durchführung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit besteht nur bei einer gültigen Anordnung durch die zuständige Behörde. Die Zuständigkeit zur Anordnung dieser Untersuchungsmassnahmen ist im Strassenverkehrsgesetz (SVG) wie auch in den dazugehörigen Verordnungen nicht geregelt. Deshalb ist danach zu unterscheiden, ob die entsprechende Untersuchung strafprozessualen oder polizeilichen Charakter hat.

II. DROGENSCHNELLTEST – EINE ZWANGSMASSNAHME

Nach einhelliger Lehrmeinung und Rechtsprechung haben Untersuchungen bzw. Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit, welche nur bei Vorliegen eines konkreten Anfangsverdachts angeordnet werden, den Charakter einer strafprozessualen Zwangsmassnahme im Sinne von Art. 197 StPO.

Gemäss Art. 55 SVG verlangt einzig die Durchführung einer Atemalkoholprobe keinen konkreten Anfangsverdacht. Diese kann unabhängig vom Vorliegen allfälliger Anzeichen von Fahrunfähigkeit durchgeführt werden, womit es sich um eine Kontrolle im Rahmen der sicherheitspolizeilichen Kontrolltätigkeit handelt. Bei Vorliegen einer voraussetzungslosen Routinekontrolle, d.h. einer Atemalkoholkontrolle ohne konkreten Tatverdacht, sind neben den Vorgaben des SVG die Zuständigkeitsvorschriften des kantonalen Polizeirechts einschlägig. Zuständig ist alsdann regelmässig die Polizei. Auch die Atemalkoholprobe wird indes zur strafprozessualen Zwangsmassnahme, wenn ein Anfangsverdacht (bspw. auffälliges Fahrverhalten), gegeben ist.

Alle weiteren Untersuchungsmassnahmen, namentlich die übrigen vom Bundesrat geregelten Voruntersuchungen (Urin-, Speichel- und Schweissuntersuchungen) – d.h. auch Drogenschnelltests –, Blutproben und die zusätzlichen ärztlichen Untersuchungen erfordern bereits von Gesetzes wegen (Art. 55 Abs. 2 und 3 SVG) für deren Durchführbarkeit einen konkreten Anfangsverdacht und sind damit allesamt Zwangsmassnahmen strafprozes-sualer Natur. Konkret handelt es sich bei diesen Massnahmen um körperliche Untersuchungen im Sinne von Art. 251 StPO, bei welchen bei der betroffenen Person körpereigene Flüssigkeiten untersucht werden. Letzteres gilt im Übrigen auch für die Atemalkoholprobe.

III. ZUSTÄNDIGKEIT ZUR ANORDNUNG EINER ZWANGSMASSNAHME

Die Zuständigkeit zur Anordnung von Zwangsmassnahmen ist abschliessend bundesrechtlich geregelt. Gemäss Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO ist die Staatsanwaltschaft zur Anordnung von Zwangsmassnahmen befugt. Die Polizei ist hingegen gemäss lit. c der genannten Norm nur in den gesetzlich vorgesehen Fällen zuständig.

An dieser Stelle gilt es darauf hinzuweisen, dass in einigen Kantonen (etwa BE, FR, SO und SZ) die jeweiligen General- bzw. Oberstaatsanwaltschaften aus Praktikabilitätsüberlegungen Weisungen erlassen haben, die es den Polizeibehörden erlauben sollen, Untersuchungsmassnahmen ohne besondere Anordnung des zuständigen Staatsanwaltes anzuordnen und durchzuführen. Das Bedürfnis für eine solche Schematisierung rechtfertigt aber nicht ein sich Hinwegsetzen – mittels generellen Weisungen – über die vom Gesetzgeber bewusst gewählte und zwingende Zuständigkeitsordnung (Urteil des Obergerichts Aargau vom 20. Oktober 2015). Bei diesen Weisungen handelt es sich – aufgrund des fehlenden Gesetzescharakters – auch nicht um einen Ausnahmefall im Sinne von Art. 198 Abs. 1 lit. c StPO.

Eine andere Frage ist indes, ob die Polizei einen Fahrzeuglenker dazu auffordern kann, freiwillig an einer Untersuchungsmassnahme mitzuwirken und eine individuell konkrete Anordnung der Staatsanwaltschaft erst für den Fall vorgesehen wird, wenn sich ein Betroffener weigert. Das Obergericht Aargau hat diese Frage in seinem Entscheid vom 20. Oktober 2015 in Bezug auf die Zulässigkeit einer freiwillig abgegebenen Blut- und Urinprobe offen gelassen. Es hielt jedoch in seiner Urteilsbegründung explizit fest, dass die Verweigerung einer freiwilligen – d.h. nicht hoheitlich angeordneten – Abgabe von Blut und Urin nicht strafbar im Sinne von Art. 91a SVG ist.

Der Drogenschnelltest wird, wie vorangehend gezeigt, im Zusammenhang mit der Zuständigkeitsregelung vom Gesetzgeber gleich behandelt wie alle anderen Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit – mit Ausnahme des Alkoholatemtests. Es wird diesbezüglich auch keine Unterscheidung getroffen, ob es sich lediglich um einen Vortest handelt oder um eine anschliessende weitergehende Massnahme in Form einer Urin- oder Blutprobe. In jedem Fall handelt es sich um Zwangsmassnahmen, die nach Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO von der Staatsanwaltschaft anzuordnen sind.

IV. FAZIT

Beim Drogenschnelltest handelt es sich um eine strafprozessuale Zwangsmassnahme im Sinne von Art. 251 StPO, die gemäss Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO zwingend von der Staatsanwaltschaft anzuordnen ist. Dasselbe gilt für die Atemalkoholprobe, sofern diese aufgrund von Anzeichen der Fahrunfähigkeit vorgenommen wird. Liegt demnach nur eine Aufforderung der Polizei zur Mitwirkung vor – die auf reiner Freiwilligkeit beruht – und fehlt es an einer entsprechenden Anordnung durch die Staatsanwaltschaft, besteht für die betroffene Person keine Mitwirkungs- oder Duldungspflicht. Ohne das Bestehen einer solchen Pflicht fehlt es offensichtlich an einer Vor- aussetzung für die Erfüllung des Tatbestands von Art. 91a SVG. Ins Visier geratene Verkehrsteilnehmer haben das Recht den von der Polizei angeordneten Drogenschnelltest bzw. Atemalkoholtest aufgrund eines Anfangsverdachts zu verweigern. Nur wenn die Massnahme durch den Staatsanwalt angeordnet wird – was im Normalfall per Telefon erfolgt –, sind Betroffene gehalten, den Test durchzuführen. Davon zu unterscheiden ist allerdings die Atemalkoholkontrolle im Rahmen zulässiger Routinekontrollen, bei welchen die Polizei ohne jeglichen Anfangsverdacht auf Fahrunfähigkeit generelle Alkoholkontrollen durchführt. In diesem Fall ist die Verweigerung des Alkoholtests im Sinne von Art. 91a SVG strafbar.

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11. August 2017 / lic. iur. Stephan Hinz unter Mithilfe von Sabrina Engel (MLaw) 


RECHTSÜBERHOLEN AUF AUTOBAHNEN BEI KOLONNENVERKEHR – PRÄZISIERUNG DER BUNDESGERICHTLICHEN RECHTSPRECHUNG

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt, und MLaw Sabrina Engel

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid (BGE 142 IV 93) vom 3. März 2016 einen Fahrzeuglenker, der bei dichtem Kolonnenverkehr auf der dreispurigen Autobahn A1-Ost von der mittleren Fahrspur (erste Überholspur) auf die rechte Spur (Normalspur) wechselte und im gleichbleibenden Tempo rechts an zwei Fahrzeugen vorbeifuhr, vom Anklagepunkt der Verkehrsregelverletzung freigesprochen. In diesem Entscheid hält das Bundesgericht zwar an seiner als zu streng kritisierten Rechtsprechung zum Verbot des Rechtsüberholens fest, es nimmt aber eine Präzisierung des Begriffs des Kolonnenverkehrs vor, indem es neu bei der Gefahrenbewertung auf das Gesamtverkehrsaufkommen abstellt.

I. DAS VERBOT DES RECHTSÜBERHOLENS 

Wer auf der Autobahn rechts überholt, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung und kann mit einer hohen Geldstrafe oder gar einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft werden. Für die meisten Autofahrer dürfte jedoch der durch das Strassenverkehrsamt zusätzlich angeordnete Führerausweisentzug das grössere Übel sein, zumal die Mindestentzugsdauer bei einer groben Verkehrsregelverletzung drei Monate beträgt. 

Unter den Begriff des Rechtsüberholens fällt nicht nur der klassische Fall, wenn ein Fahrzeuglenker von der Überholspur auf die Normalspur ausschert, an einem Auto auf der rechten Seite vorbeifährt und danach wieder auf die Überholspur wechselt. Rechtsüberholen im Sinne der ständigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung liegt bereits dann vor, wenn ein schnelleres Fahrzeug auf der Normalspur ein mit geringerer Geschwindigkeit in gleicher Richtung vorausfahrendes Fahrzeug auf der Überholspur einholt, an diesem vorbeifährt und vor ihm die Fahrt weiterhin auf der Normalspur fortsetzt. Es wird also weder das Ausschwenken noch das Wiedereinbiegen auf die Überholspur für den Tatbestand des Rechtsüberholens vorausgesetzt.

II. AUSNAHME VOM VERBOT DES RECHTSÜBERHOLENS 

Das Gesetz sieht jedoch Ausnahmen vom Verbot des Rechtsüberholens vor, d.h. in diesen Verkehrssituationen darf der Fahrzeuglenker rechts an den anderen Fahrzeugen vorbeifahren: 

– Beim Fahren auf Einspurstrecken, sofern für die jeweiligen Fahrspuren unterschiedliche Fahrziele signalisiert sind
– Beim Fahren auf den Beschleunigungsstreifen von Einfahrten bis zum Ende der Doppellinien-Markierung 
– Beim Fahren auf dem Verzögerungsstreifen von Ausfahrten 
– Beim Fahren in parallelen Kolonnen
Das Bundesgericht hat sich im Entscheid (BGE 142 IV 93) vom 3. März 2016 mit letzterer Ausnahme vom Rechtsüberholen, Fahren in parallelen Kolonnen, wegweisend auseinandergesetzt. Es hält zwar auch in diesem Entscheid nach wie vor an seiner Rechtsprechung zur Unterscheidung zwischen dem grundsätzlichen Verbot, rechts zu überholen durch Ausschwenken und/oder Wiedereinbiegen und dem erlaubten Rechtsvorfahren, fest, es präzisiert aber den Begriff des Kolonnenverkehrs auf Autobahnen. 

1. Begriff des Kolonnenverkehrs nach jüngster Rechtsprechung

Der Begriff des Kolonnenverkehrs wurde dahingehend konkretisiert, dass paralleler Kolonnenverkehr bereits dann anzunehmen ist, wenn es auf der linken (und allenfalls mittleren) Überholspur zu einer derartigen Verkehrsverdichtung kommt, dass Fahrzeuge auf der Überholspur faktisch nicht mehr schneller vorankommen als diejenigen auf der Normalspur, mithin die gefahrenen Geschwindigkeiten annähernd gleich sind. 

Bei der Beurteilung, ob ein paralleler Kolonnenverkehr vorherrscht, ist es irrelevant, ob bzw. dass die Abstände zwischen den Fahrzeugen auf der Normalspur grösser sind als zwischen denen auf der linken (und allenfalls mittleren) Überholspur. Dasselbe gilt bei verkehrsbedingten geringfügigen Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen den Fahrzeugen auf der Normalspur und denjenigen auf der Überholspur. 

Das Bundesgericht führt in seiner Begründung aus, dass das passive Rechtsvorbeifahren bei dichtem Verkehr mittlerweile eine alltägliche Situation sei, die sich kaum vermeiden liesse und nicht per se zu einer abstrakt erhöhten Gefahrensituation führe. Im Gegensatz zum eigentlichen verbotenen Rechtsüberholen tauche bei einem vorherrschenden Kolonnenverkehr das rechts auf der Normalspur fahrende Auto nicht plötzlich und unvermittelt auf, sondern bewege sich mit konstanter Geschwindigkeit fort. Es bestünde damit keine Gefährdungs- oder Unfallgefahr. Fahrzeuglenker auf der Überholspur können bei erhöhtem Verkehrsaufkommen und Reduzierung der eigenen Geschwindigkeit nicht darauf vertrauen, dass sich die neben ihnen auf der Normalspur fahrenden Autos dem Verkehrsaufkommen auf der Überholspur anpassen und ihrerseits die Geschwindigkeit reduzieren, um einen blinden Spurenwechsel zu ermöglichen. 

III. FAZIT 

Wer auf der Autobahn auf der Normalspur bei dichtem Kolonnenverkehr auf beiden (allen) Spuren mit einer konstanten Geschwindigkeit an den Fahrzeugen auf der Überholspur rechts vorbeifährt (ohne Ausschwenken und Wiedereinbiegen), begeht keine grobe Verkehrsverletzung und bleibt damit straflos. Fahrzeuglenker auf der Überholspur werden bei einer solchen Verkehrslage also nicht (mehr) in ihrem Vertrauen geschützt, dass sich auf der Normalspur hinter ihnen kein Fahrzeug befindet oder nähert. Hingegen gilt das eigentliche Rechtsüberholen auf der Autobahn nach wie vor als grobe Verkehrsregelverletzung und wird auch entsprechend gebüsst, namentlich der vorsätzliche Wechsel von der Überholspur auf die Normalspur mit dem Zweck des Überholens.

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29. November 2016 / lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt, und MLaw Sabrina Engel


DIE BEWEISSICHERE ATEMALKOHOLPROBE – GELTEND AB 1. OKTOBER 2016

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt, und BLaw Sonja Plüss

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Vom Parlament wurde im Rahmen der „Via sicura“ die Einführung der beweissicheren Atemalkoholprobe beschlossen, welche im Strassenverkehr ab 1. Oktober 2016 eingesetzt werden wird. Bereits bisher konnte die Fahrunfähigkeit mit Hilfe einer Atemalkoholprobe durchgeführt werden. Dies genügte bis anhin jedoch nur als Beweis, wenn der Wert unter 0,80 Promille lag und die betroffene Person diesen Wert mit ihrer Unterschrift anerkannte.

In allen anderen Fällen musste die Blutalkoholkonzentration mittels einer Blutentnahme durch einen Arzt bestimmt werden. Ab 1. Oktober 2016 wird nunmehr eine Blutprobe nur bei Verdacht auf Betäubungsmittelkonsum, auf Verlangen des Betroffenen oder in Ausnahmefällen (z.B. bei Atemwegserkrankungen) angeordnet werden. 

Eingeführt wurde die beweissichere Atemalkoholprobe zum einen, weil inzwischen technisch hoch entwickelte Geräte erhältlich sind und zum anderen soll der Ablauf vereinfacht werden (Zeitersparnis und Kosteneindämmung). Die Zeitersparnis ermöglicht es die Kontrollkapazitäten der Polizei zu intensivieren. Des Weiteren muss der betroffene Verkehrsteilnehmer keinen körperlichen Eingriff mehr erdulden.

I. NEUE MESSEINHEIT

Bei einer Atemalkoholprobe wird ein Verkehrsteilnehmer von der Polizei dazu aufgefordert, in ein Röhrchen zu blasen. Dabei wird gemessen, wie viel Alkohol die betroffene Person in ihrer Atemluft hat (Milligramm Alkohol pro Liter Atemluft). Bei einer Blutalkoholprobe hingegen, welche von Seiten der Staatsanwaltschaft angeordnet sein muss (vgl. unser Newsletter vom 21. Dezember 2015 – Verweigerung der Blut- und Urinprobe), wird der betroffenen Person durch einen Arzt Blut entnommen. Hierbei wird ermittelt, wie viel Alkohol der Getestete im Blut hat (Gramm Alkohol pro Kilo Blut – dies entspricht dem „Promille“).

Da neu nun die Blutalkoholprobe nur noch in Ausnahmefällen zum Zuge kommen wird und die Atemalkoholprobe die Regel sein wird, wurden – neben den bereits bestehenden Blutalkoholgrenzwerten – noch eigene Grenzwerte für den Atemalkohol festgelegt. Gemäss dem Bundesamt für Strassen ASTRA wurden die Grenzwerte dabei aber nicht verändert, sondern einzig in einer anderen Messeinheit angegeben. Dabei wird der Wert (in Promille) der Blutalkoholkonzentration einfach halbiert, um so den Wert (in mg/L) einer Atemalkoholprobe zu erhalten. Somit werden folgende Grenzwerte relevant:

Fahren in angetrunkenem Zustand:

Blutalkoholkonzentration ≥ 0,50 ‰ (bisher und weiterhin geltend)

Neuer Grenzwert ab 1.10.2016: Atemalkoholkonzentration ≥ 0,25 mg/L

Fahren mit qualifizierter Alkoholkonzentration (qualifizierter FiaZ):

Blutalkoholkonzentration ≥ 0,80 ‰ (bisher und weiterhin geltend)

Neuer Grenzwert ab 1.10.2016: Atemalkoholkonzentration ≥ 0,40 mg/L

II. UMRECHNUNGSFAKTOR

Durch einen Diffusionsprozess kommt der Alkohol durch das Blut auch in die Atemluft. Die Alkoholkonzentration ist jedoch in der Atemluft geringer als im Blut. Die Atemalkoholkonzentration kann man problemlos in eine Blutalkoholkonzentration umrechnen – hierbei handelt es sich jedoch nur um einen Mittelwert und nicht um einen individuellen Wert. Dies ist problematisch, da dieser Wert zwischen verschiedenen Menschen enorm schwankt. Eine gemessene Atemalkoholkonzentration von 0,4 mg/L, welche einer Blutalkoholkonzentration von 0,8 Promille entsprechen sollte, kann individuell von 0,29 bis 1,31 Promille schwanken. Hierbei gilt es zu bedenken, dass nur der Blutalkoholwert eine effektive Aussage über die Fahrunfähigkeit machen kann, denn es ist die Alkoholmenge im Blut, welche im Gehirn zur entsprechenden Beeinträchtigung und damit Fahrunfähigkeit führt. Somit erscheint es doch eher als fraglich, den Wert der Atemalkoholkonzentration als Grundlage einer strafrechtlich relevanten Norm zu sehen. Dennoch wird dies ab 1. Oktober 2016 so sein.

III. STRAFBARKEIT

Während das Fahren in angetrunkenem Zustand (Blutalkoholkonzentration ≥ 0,50 ‰ / Atemalkoholkonzentration ≥ 0,25 mg/L) gemäss Art. 91 SVG noch mit einer Busse bestraft wird, kann bei der sogenannten „qualifizierten“ Alkoholkonzentration (Blutalkoholkonzentration ≥ 0,80 ‰ / Atemalkoholkonzentration ≥ 0,40 mg/L) gemäss Art. 91 SVG bereits eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe drohen.

IV. DURCHFÜHRUNG DER ATEMALKOHLPROBE

Weiterhin werden Atemalkoholproben mit dem bisherigen AtemalkoholTESTgerät durchgeführt (dies frühestens 20 Minuten nach Ende des Alkoholkonsums). Hierbei sind zwei Messungen erforderlich. Diese dürfen nicht mehr als 0,05 mg/L voneinander abweichen, ansonsten müssen zwei neue Messungen vorgenommen werden. Wird hierbei ein Wert grösser als 0,40 mg/L festgestellt, wird eine weitere Atemalkoholprobe mit einem neuen AtemalkoholMESSgerät durchgeführt (sofern die erste Probe nicht bereits mit diesem erfolgte). Die Polizei ist dabei allfällig verpflichtet, die betroffene Person darauf hinzuweisen, dass sie eine Blutprobe verlangen kann und dass die Anerkennung des Ergebnisses der Atemalkoholprobe die Einleitung massnahme- und strafrechtlicher Verfahren zur Folge hat.

V. FAZIT

Grundsätzlich will der Gesetzgeber diejenigen Fahrzeugführer bestrafen, deren Fahrtüchtigkeit durch übermässigen Alkoholkonsum eingeschränkt ist, da sie andere Verkehrsteilnehmer gefährden. Die Fahrfähigkeit ist dort beeinträchtigt, wo eine bestimmte Menge Alkohol über das Blut in das Gehirn gelangt. Somit ist die Blutalkoholkonzentration der alles entscheidende Wert. Ab 1. Oktober 2016 sieht nun der Gesetzgeber vor, dass die Blutalkoholkonzentrationsmessung in den Hintergrund tritt und dafür die Atemalkoholkonzentrationsmessung den primären zu beachtenden Wert darstellt und als zulässiges Messinstrument für einen qualifizierten FiaZ (Blutalkoholkonzentration ≥ 0,80 ‰ / Atemalkoholkonzentration ≥ 0,40 mg/L) gilt. Dies obwohl die Gefahr besteht, dass Menschen, bei denen aus physiologischen Gründen der Wert vom Mittel abweicht, entweder zu ihren Ungunsten bestraft oder zu ihren Gunsten nicht bestraft werden. Diese Ungereimtheit nimmt der Gesetzgeber vorderhand in Kauf.

TAKE HOME MESSAGE

Gerät nun ein Fahrzeuglenker in eine Polizeikontrolle und es wird ein qualifiziertes FiaZ (Blutalkoholkonzentration ≥ 0,80 ‰ / Atemalkoholkonzentration ≥ 0,40 mg/L) festgestellt, obwohl der Lenker – seines Wissens (aber Achtung vor falscher Selbsteinschätzung) – nur geringe Mengen von Alkohol zu sich genommen hatte sowie das Trinkende relativ nah liegt, sollte er auf jeden Fall auf eine Blutprobe bestehen, um der Gefahr einer „ungerecht“ hohen Strafe, ausgelöst durch eine zu hohe Atemalkoholkonzentration, zu entgehen.

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12. April 2016, lic. iur. Stephan Hinz


VERWEIGERUNG DER BLUT- UND URINPROBE

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt, und Matthias Meier, MLaw 

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Es gehört zum Standardprozedere einer Verkehrskontrolle: Wenn die Polizei beim Fahrzeugführer Anzeichen von Drogenkonsum feststellt, wird ein sogenannter Drogen-Vortest durchgeführt. Ist das Resultat positiv, drängt sich zur Überprüfung des Tests eine Blut- und Urinuntersuchung im Spital auf. Weigert sich der Fahrzeuglenker, eine solche durchführen zu lassen, kann er sich der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit strafbar machen (Art. 91a SVG). Das Aargauer Obergericht hat sich in einem neuen Entscheid mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Polizei eine solche Blut- und Urinuntersuchung anordnen darf oder ob es einer Anordnung durch die Staatsanwaltschaft bedarf.

I. DER ENTSCHEID DES AARGAUER OBERGERICHTS

Dem bisher unveröffentlichten, aber rechtskräftigen Urteil des Aargauer Obergerichts vom 20. Oktober 2015 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Anlässlich einer Verkehrskontrolle wurde bei einem Autofahrer aufgrund äusserer Anzeichen von Drogenkonsum ein Vortest durchgeführt, der positiv auf Cannabis verlief. Die Polizei wies den Fahrer darauf hin, dass sich eine Blut- und Urinuntersuchung aufdränge und machte ihn darauf aufmerksam, dass eine Verweigerung der Blut- und Urinprobe strafrechtliche und administrative Konsequenzen nach sich ziehen würde. Trotzdem verweigerte der Autofahrer die Blut- und Urinprobe. Nach Rücksprache mit dem zuständigen Pikett-Staatsanwalt wurde schliesslich keine zwangsweise Blutentnahme angeordnet.

Das Aargauer Obergericht musste unter anderem beurteilen, ob sich der Autofahrer durch sein Verhalten nach Art. 91a des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) strafbar gemacht hat. Dieser lautet wie folgt:

Art. 91a SVG (Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit) 

Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer sich als Motorfahrzeugführer vorsätzlich einer Blutprobe, einer Atemalkoholprobe oder einer anderen vom Bundesrat geregelten Voruntersuchung, die angeordnet wurde oder mit deren Anordnung gerechnet werden musste, oder einer zusätzlichen ärztlichen Untersuchungwidersetzt oder entzogen hat oder den Zweck dieser Massnahmen vereitelt hat.

Hat der Täter ein motorloses Fahrzeug geführt oder war er als Strassenbenützer an einem Unfall beteiligt, so ist die Strafe Busse.

Durch diese Gesetzesbestimmung soll verhindert werden, dass sich der korrekt einer solchen Massnahme unterziehende Führer schlechter wegkommt als derjenige, der sich ihr entzieht oder sie sonstwie vereitelt (Urteil des Bundesgerichts vom 5.11.2012, 6B_229/2012, E. 2 m.H.). Art. 91a SVG setzt voraus, dass der Täter verpflichtet war, sich einer Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit zu unterziehen bzw. bei der Durchführung einer solchen Massnahme mitzuwirken. Eine solche Verpflichtung besteht jedoch nur, wenn die Massnahme gültig angeordnet wurde oder der Täter mit einer Massnahme rechnen musste.

Die Anordnung der Blut- und Urinuntersuchung war vorliegend die Folge eines Anfangsverdachts (äussere Anzeichen von Drogenkonsum sowie positiver Drogenschnelltest). Es handelt sich bei der Anordnung nicht um eine polizeiliche, sondern um eine strafprozessuale Zwangsmassnahme im Sinne von Art. 251 der Strafprozessordnung (StPO). Zuständig für den Erlass ist die Staatsanwaltschaft (Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO). Das Aargauer Obergericht urteilte aufgrund dieser Normen im geschilderten Fall, dass die Polizei für die Anordnung einer Blut und Urinuntersuchung nicht zuständig gewesen sei. Es hätte einer Anordnung durch die Staatsanwaltschaft selbst bedurft. Die Ansicht des Bezirksgerichts Baden bzw. der Staatsanwaltschaft Baden, wonach eine Weisung der Oberstaatsanwaltschaft ausreiche, aufgrund welcher die Untersuchung von Urin- und Blutproben in Routinefällen in genereller Weise als durch die Staatsanwaltschaft angeordnet gelte und somit durch die Polizei vorgenommen werden könne, teilte das Obergericht nicht. Ein solches Vorgehen sei auch bei anderen Zwangsmassnahmen (z.B. Untersuchungshaft) nicht gestattet. Das Obergericht verwies bei seinem Urteil auch auf einen neuen Entscheid des Bundesgerichts (BGE 141 IV 87), in welchem dieses ausführlich zur Erstellung eines DNAProfils Stellung nahm und dabei zum Schluss kam, dass jeweils die Staatsanwaltschaft die Prüfung der Einzelfälle vornehmen müsse und die Anordnungskompetenz nicht in genereller Weise an die Polizei delegiert werden dürfe. Aufgrund dieser Erwägungen sprach das Obergericht den Autofahrer vom Vorwurf der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit nach Art. 91a Abs. 1 SVG frei.

II. RECHTSFOLGEN FÜR DIE PRAXIS

Das Urteil des Aargauer Obergerichts könnte für viele Fälle in der Praxis wegweisend sein. Es geht um die Kompetenzfrage, welche Handlungen die Staatsanwaltschaft selbst vorzunehmen hat und welche sie an die Polizei delegieren darf. Art. 198 Abs. 1 lit. c StPO sieht vor, dass die Polizei nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen selbst Zwangsmassnahmen anordnen darf, ohne dass hierfür eine staatsanwaltschaftliche Anordnung vorliegen muss. Das betrifft beispielsweise die Vornahme von Vorladungen (Art. 206 StPO), Vorführungen (Art. 207 ff. StPO), vorläufigen Festnahmen (Art. 217 StPO) und verdeckten Observationen (Art. 282 StPO). Zudem kann die Polizei teilweise auch in dringenden Fällen selbst Verfahrenshandlungen vornehmen (z.B. Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen von Gegenständen).

Der Entscheid des Aargauer Obergerichts besagt nun, dass immer dann, wenn sich ein Autofahrer trotz Androhung strafrechtlicher und administrativer Konsequenzen weigert, eine Blut- und Urinuntersuchung vorzunehmen, eine staatsanwaltschaftliche Anordnung zu erfolgen hat. Liegt diese nicht vor, kann der Autofahrer nicht nach Art. 91a SVG bestraft werden. Eine andere Frage, welche das Gericht in seinem Entscheid nicht beantwortet hat, ist indes, ob die Polizei einen Fahrzeuglenker dazu auffordern kann, freiwillig eine Blut- und Urinprobe abzugeben und eine individuell-konkrete Anordnung der Staatsanwaltschaft erst für den Fall vorgesehen wird, wenn sich ein Betroffener weigert.

III. AUFHEBUNG DER STRAFBARKEIT IN FRÜHEREN FÄLLEN?

Aufgrund des Urteils des Aargauer Obergerichts könnten sich Personen, gegen welche aufgrund eines ähnlichen Vorfalls ein rechtskräftiges Urteil oder ein (nicht angefochtener) Strafbefehl vorliegt, die Frage stellen, ob ihr Urteil bzw. ihr Strafbefehl nachträglich aufgehoben werden müsste. Ob eine Abänderung oder Aufhebung eines Urteils oder eines Strafbefehls möglich ist, beurteilt sich nach den Bestimmungen über die Revision (Art. 410 ff. StPO). Entscheidend für ein erfolgreiches Revisionsbegehren ist, ob eine neue Rechtsprechung zu einer Abänderung von früheren Urteilen führen kann. Dies ist für die vorliegende Sache zu verneinen. Bei anderen Bewertungen und neuen Rechtsauffassungen handelt es sich nicht um neue Tatsachen oder Beweise. Gestützt auf eine Gesetzesänderung nach Rechtskraft des Urteils kann ebenso wenig eine Revision eingeleitet werden wie mit derBehauptung einer mittlerweile eingetretenen, also neuen oder geänderten Rechtsanschauung oder einer Änderung der Rechtsprechung. Personen, welche rechtskräftig verurteilt sind, können also nicht mit Hinweis auf das Urteil des Aargauer Obergerichts eine Revision ihres eigenen Verfahrens verlangen.

IV. FAZIT

Beim Urteil des Aargauer Obergerichts geht es um die Kompetenzfrage, welche Handlungen die Staatsanwaltschaft selbst vorzunehmen hat und welche sie an die Polizei delegieren darf. Weigert sich ein Autofahrer, eine Blut- und Urinuntersuchung durchführen zu lassen, muss die Staatsanwaltschaft die entsprechende Untersuchung anordnen. Anderenfalls macht sich der Autofahrer nicht strafbar im Sinne von Art. 91a SVG, wenn er die Blutuntersuchung verweigert. Personen, welche in einem früheren Verfahren verurteilt worden sind, können jedoch nicht mit Hinweis auf den Entscheid des Aargauer Obergerichts eine Revision ihres eigenen Urteils verlangen.

Eine geänderte Rechtsanschauung oder eine Änderung der Rechtsprechung reichen hierfür nicht aus.

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21. Dezember 2015 / lic. iur. Stephan Hinz


FAHRVERBOT IM AUSLAND – FÜHRERAUSWEISENTZUG IN DER SCHWEIZ?

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt, und Sandra Berner, MLaw

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Grundsätzlich gilt, dass eine Verkehrswiderhandlung im Ausland auch in der Schweiz zu einer Administrativmassnahme führen kann, sofern im Ausland ein Fahrverbot verfügt und an die Schweiz mitgeteilt wurde und die Widerhandlung nach schweizerischem Recht als mittelschwer oder schwer zu qualifizieren ist. Es handelt sich somit um gröbere Verkehrsverstösse und nicht um kleinere Regelverletzungen wie geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitungen oder Falschparkieren, welche üblicherweise mit Busse geahndet werden. Gemäss Gesetz sind bei der Festlegung der Entzugsdauer des schweizerischen Führerausweises die Auswirkungen des ausländischen Fahrverbots auf die betroffene Person angemessen zu berücksichtigen. Es stellt sich die Frage, worauf es im Einzelnen ankommt. In einem kürzlich erschienen Urteil (1C_538/2014 vom 9. Juni 2015) hat sich das Bundesgericht mit dieser Frage eingehend auseinandergesetzt.

I. RECHTLICHE GRUNDLAGE

Begeht eine Person mit schweizerischem Wohnsitz im Ausland ein Strassenverkehrsdelikt, kann der Tatortstaat allein mit Wirkung auf das eigene Staatsgebiet eine Administrativmassnahme verhängen. Den schweizerischen Führerausweis als solchen kann er nicht entziehen. Die Wirkung der im Ausland verfügten Administrativmassnahme ist daher beschränkt. Deshalb sieht das Strassenverkehrsgesetz (SVG) unter bestimmten Voraussetzungen den Entzug des schweizerischen Führerausweises durch die schweizerische Behörde vor.

Gemäss Art. 16cbis Abs. 1 SVG wird nach einer Widerhandlung im Ausland der Führerausweis in der Schweiz entzogen, wenn im Ausland ein Fahrverbot verfügt wurde und die Widerhandlung als mittelschwer oder schwer zu qualifizieren ist. Bei der Festlegung der Entzugsdauer sind die Auswirkungen des ausländischen Fahrverbots auf die betroffene Person angemessen zu berücksichtigen, wobei die Mindestentzugsdauer unterschritten werden darf. Die Entzugsdauer darf bei Personen, die im Administrativmassnahmenregister nicht verzeichnet sind, also bei Ersttätern, die am Begehungsort im Ausland verfügte Dauer des Fahrverbots nicht überschreiten (Art. 16cbis Abs. 2 SVG). Bei Rückfalltätern darf die schweizerische Behörde die Dauer des ausländischen Fahrverbots überschreiten.

Die schweizerische Behörde darf somit bei Ersttätern keine strengere Wertung vornehmen als die ausländische. Dass sie gegebenenfalls nach schweizerischem Recht ein längeres Fahrverbot als gerechtfertigt angesehen hätte, spielt keine Rolle.

Zweck dieser Bestimmung ist die Vermeidung der Doppelbestrafung. Die im Ausland und in der Schweiz ausgesprochenen Sanktionen müssen in ihrer Gesamtheit schuldangemessen sein (BGE 128 II 133 E. 3b/bb). Daher sind bei der Festlegung der Entzugsdauer die Auswirkungen des ausländischen Fahrverbots auf die betroffene Person angemessen zu berücksichtigen. Mit dem Wort „angemessen“ wird dem Umstand Rechnung getragen, dass das ausländische Fahrverbot die betroffene Person unterschiedlich stark oder gar nicht treffen kann. So gibt es Fahrzeugführer, die im ausländischen Begehungsort öfters unterwegs sind, sei es aus privaten oder beruflichen Gründen, weshalb sie das dortige Fahrverbot erheblich belastet. Umgekehrt gibt es Fahrzeugführer, die selten im ausländischen Begehungsort unterwegs sind, weshalb sie das ihnen dort auferlegte Fahrverbot kaum oder überhaupt nicht trifft. Massgeblich sind somit die Umstände des Einzelfalles.

II. BUNDESGERICHTSURTEIL 1C_538/2014 VOM 9. JUNI 2015

Anfangs Juni 2015 hat sich das Bundesgericht mit einem Autofahrer aus dem Kanton Zug befasst. Dieser hatte auf einer deutschen Autobahn zweimal die Höchstgeschwindigkeit deutlich überschritten, weswegen er mit einem zweimonatigen Fahrverbot in Deutschland belegt wurde. Kurz darauf entzog ihm das Strassenverkehrsamt des Kantons Zug wegen des Fehlverhaltens in Deutschland den schweizerischen Führerausweis ebenfalls für 2 Monate.

Der Betroffene erachtete diese Entzugsdauer für zu lange, da er in Deutschland viel unterwegs sei und ihn das deutsche Fahrverbot daher bereits hart treffe.

Mit Urteil 1C_538/2014 vom 9. Juni 2015 hat das Bundesgericht ihm Recht gegeben. Das Bundesgericht hielt fest, dass mit dem deutschen Fahrverbot von 2 Monaten der Unrechtsgehalt der begangenen Verkehrsregelverletzung abgegolten sei. Die aufzuerlegende Sanktion dürfe somit 2 Monate nicht übersteigen. Massgeblich sei insoweit das gesamte Sanktionenpaket. Da das deutsche Fahrverbot den Fahrzeugführer belastet habe, führe ein schweizerischer Führerausweisentzug von ebenfalls 2 Monaten dazu, dass der Fahrzeugführer gesamthaft eine Sanktion zu tragen hätte, die 2 Monate übersteige. Dies verletze das Übermassverbot. Die Dauer des schweizerischen Führerausweisentzuges sei so festzulegen, dass der Fahrzeugführer unter Berücksichtigung der Belastung, die der Vollzug des deutschen Fahrverbots für ihn dargestellt habe, eine Sanktion zu tragen habe, die gesamthaft 2 Monaten entspreche. Wenn die ausländischen Behörden eine Verkehrsregelverletzung anders werten und insbesondere Geschwindigkeitsüberschreitungen milder ahnden, haben die schweizerischen Behörden das hinzunehmen. Es komme lediglich auf den Unrechtsgehalt am Begehungsort an. Das Bundesgericht erachtete somit eine Reduktion des schweizerischen Führerausweisentzugs auf einen Monat als angemessen.

III. SCHLUSSFOLGERUNG

Mit dieser neuen Rechtsprechung hat das Bundesgericht der bisherigen Praxis Grenzen gesetzt. Neu ist in jedem Fall eine Einzelfallbetrachtung durch die schweizerischen Behörden unabdingbar. Die schweizerischen Behörden sind gehalten, mit der ausländischen und schweizerischen Massnahme ein Gesamtpaket zu bilden, welches der Schuld angemessen ist. Dabei hat ausser Betracht zu bleiben, ob das ausgesprochene ausländische Fahrverbot nach schweizerischen Massstäben zu tief ausgefallen ist.

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10. September 2015 / lic. iur. Stephan Hinz

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