EHE FÜR ALLE AB DEM 1. JULI 2022

lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin

lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Unter geltendem Recht können gleichgeschlechtliche Paare ihre Beziehung seit dem Jahr 2007 als eingetragene Partnerschaft anerkennen lassen (Art. 2 des Partnerschaftsgesetzes, PartG). Rechtlich unterscheidet sich die eingetragene Partnerschaft von der Ehe vorwiegend bei der Einbürgerung, der Adoption sowie der Samenspende. So ist die erleichterte Einbürgerung für ausländische Personen in eingetragener Partnerschaft nicht vorgesehen (vgl. Art 20 ff. Bürgerrechtsgesetz, BüG sowie Art. 10 BüG [ordentliche Einbürgerung bei eingetragener Partnerschaft]). Weibliche Paare in eingetragener Partnerschaft haben keinen Zugang zur Samenspende (Art. 3 Abs. 3 Fortpflanzungsmedizingesetz, FMedG) und eine Adoption ist für Personen in eingetragener Partnerschaft nur für die Kinder des Partners oder der Partnerin vorgesehen (Art. 264c Zivilgesetzbuch, ZGB).

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I. GRUNDSATZ

Am 26. September 2021 wurde die Vorlage «Ehe für alle» angenommen. Bereits mit Gültigkeit ab dem 1. Januar 2022 ist Art. 9g Abs. 2 Schlusstitel ZGB in Kraft. Gemäss dieser Bestimmung werden ab dem 1. Januar 2022 im Ausland geschlossene Ehen gleichgeschlechtlicher Paare bereits als solche anerkannt und der für diese Ehen geltende Güterstand übernommen.

Ab dem 1. Juli 2022 können gleichgeschlechtliche Paare heiraten oder ihre eingetragene Partnerschaft in eine Ehe umwandeln lassen. Das Gesuch um Durchführung des Ehevorbereitungsverfahrens kann bereits vor dem 1. Juli 2022 beim zuständigen Zivilstandesamt eingereicht werden. Sodann können ab dem 1. Juli 2022 keine neuen eingetragenen Partnerschaften mehr begründet werden. Gleichgeschlechtliche Paare können, wie heterosexuelle Paare, künftig einzig heiraten (vgl. Art. 2 PartG, welcher per 1. Juli 2022 aufgehoben wird).

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II. UMWANDLUNG EINER EINGETRAGENEN PARTNERSCHAFT

Gemäss Art. 35 Abs. 1 nPartG können eingetragene Partnerinnen und Partner gemeinsam beim Zivilstandesamt erklären, dass sie ihre eingetragene Partnerschaft in eine Ehe umwandeln wollen. Es handelt sich dabei nicht um eine Auflösung der eingetragenen Partnerschaft und einen (Neu-) Abschluss einer Ehe, sondern um eine Umwandlung des bestehenden Instituts. Eine solche Erklärung ist nicht an eine bestimmte Frist gebunden und kann jederzeit erfolgen. Sobald beide Partnerinnen oder Partner die entsprechende Umwandlungserklärung unterzeichnet haben, gelten sie als Eheleute und ihr Zivilstand wird mittels Beurkundung im Zivilstandsregister in «verheiratet» geändert. Ein bestehender Vermögens- oder Ehevertrag bleibt auch nach der Umwandlung weiterhin gültig (Art. 35a Abs. 4 nPartG). Der ordentliche Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung, welcher heute bereits bei der Ehe von heterosexuellen Paaren grundsätzlich zur Anwendung gelangt (Art. 181 ZGB), gilt ab dem Zeitpunkt der Umwandlung (Art. 35a Abs. 3 nPartG). Wird keine Erklärung nach Art. 35 Abs. 1 nPartG abgegeben, wird die bereits bestehende eingetragene Partnerschaft als solche weitergeführt und die entsprechenden Gesetzesbestimmungen des Partnerschaftsgesetzes bleiben anwendbar.

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III. HEIRAT

Das Eherecht ist im zweiten Teil (Familienrecht), erste Abteilung, des Zivilgesetzbuches geregelt. Die Artikel 90 ff. ZGB werden per 1. Juli 2022 sprachlich angepasst. Inhaltlich ändern sich die Ehevoraussetzungen, die Vorbereitung der Eheschliessung und die Trauung nicht. Das bedeutet, dass gleichgeschlechtliche Paare ab 1. Juli 2022 unter den gleichen Voraussetzungen und Modalitäten heiraten können, wie dies bereits unter geltendem Recht für heterosexuelle Paare gilt.

Auch die Artikel 43 ff. des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht, 3. Kapitel (Eherecht), erfahren per 1. Juli 2022 eine sprachliche Anpassung.

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IV. ADOPTION UND SAMENSPENDE

Gemäss Art. 264c ZGB können gleichgeschlechtliche Paare, die in einer eingetragenen Partnerschaft leben, ausschliesslich das Kind ihres Partners/ihrer Partnerin, nicht aber ein Kind von Dritten adoptieren. Die gemeinschaftliche Adoption gemäss Art. 264a ZGB steht bisher nur Ehegatten unter bestimmten, vom Gesetz bezeichneten, Voraussetzungen offen. Durch die neu geschaffene Möglichkeit der Eheschliessung von gleichgeschlechtlichen Paaren, können diese künftig (ab 1. Juli 2022) ebenfalls gemeinschaftlich ein Kind adoptieren.

Gemäss Art. 3 Abs. 3 FMedG dürfen gespendete Samenzellen bisher nur bei (heterosexuellen) Ehepaaren verwendet werden. Da unter geltendem Recht eine Ehe zwischen zwei Frauen noch nicht möglich ist, ist eine Samenspende an ein Paar, das in eingetragener Partnerschaft lebt, ebenfalls nicht vorgesehen. Mit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, steht es ab dem 1. Juli 2022 lesbischen Paaren, die eine Ehe schliessen, unter den Voraussetzungen des Fortpflanzungsmedizingesetzes offen, eine Samenspende zu erhalten.

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V. ERLEICHTERTE EINBÜRGERUNG

Das Bürgerrechtsgesetz (BüG) regelt unter dem Titel «Ordentliche Einbürgerung» die Voraussetzungen bei eingetragener Partnerschaft (Art. 10 BüG). Eine erleichterte Einbürgerung ist nach geltendem Recht für Personen in eingetragener Partnerschaft nicht vorgesehen. Diese steht gemäss Art. 21 BüG bisher nur der Ehefrau eines Schweizers oder dem Ehemann einer Schweizerin offen. Durch das künftige Recht zur Eheschliessung für alle (ab 1. Juli 2022), können auch die gleichgeschlechtlichen Ehepartner von Schweizerinnen und Schweizer von der erleichterten Einbürgerung nach Art. 21 BüG profitieren.

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VI. AUFHEBUNG DER EINGETRAGENEN PARTNERSCHAFT / SCHEIDUNG

Die Auflösung einer eingetragenen Partnerschaft und die Scheidung einer Ehe ist, gestützt auf die entsprechenden, gesetzlichen Bestimmungen im nPartG und im ZGB nur durch das zuständige Gericht möglich. Die betroffenen Paare haben jedoch, wie bis anhin, die Möglichkeit, die Nebenfolgen der Auflösung einer eingetragenen Partnerschaft/der Scheidung im gesetzlich vorgesehenen Rahmen in einer Teil- oder Volleinigung eigenständig und einvernehmlich zu regeln. Für diesen Prozess empfiehlt sich in vielen Fällen der Beizug einer rechtlichen Fachperson, die sicherstellen kann, dass die gemeinsam erarbeiteten Regelungen vom Gericht genehmigt werden können. Nur wenn die Parteien sich bezüglich dem Auflösungspunkt/Scheidungspunkt nicht einig sind oder es nicht gelingt, die Nebenfolgen der Auflösung einer eingetragenen Partnerschaft/der Scheidung einvernehmlich zu regeln, entscheidet der Richter autoritativ im streitigen Verfahren.

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Eine Gegenüberstellung der Gesetzestexte bisher und neu ab dem 1. Juli 2022 finden Sie links unten über den «PDF-Button».

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25. Januar 2022  / lic. iur. Melanie Schmidt


DER UNTERHALTSANSPRUCH DES VOLLJÄHRIGEN, NOCH IN DER ERSTAUSBILDUNG STEHENDEN KINDES GEGENÜBER BEIDEN ELTERNTEILEN (ART. 277 ZGB)

lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin

lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Mit aktuellem Urteil vom 14. Mai 2021 (5A_513/2020) bestätigt das Bundesgericht seine Rechtsprechung betreffend die proportionale Aufteilung des Unterhaltes für volljährige Kinder auf beide Elternteile nach deren (finanzieller) Leistungsfähigkeit und hält an seiner Praxis fest, dass das volljährige Kind keinen Anspruch auf einen Anteil an einem Überschuss seiner Eltern hat.

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I. GRUNDSÄTZE ZUR ERMITTLUNG DES KINDERUNTERHALTS

Art. 276 Abs. 1 und 2 ZGB sieht als Grundsatz vor, dass beide Elternteile, ein jeder nach seinen Kräften, für den in Form von Pflege, Erziehung und Geld zu erbringenden Unterhalt des Kindes zu sorgen haben. Bei Unterhaltsansprüchen des noch minderjährigen Kindes sind Geld- und Naturalunterhalt grundsätzlich gleich zu gewichten. Die Regelung gemäss Art. 276 Abs. 1 und 2 ZGB gilt auch für den gesamten Barunterhalt eines Kindes, der sich nach Art. 285 Abs. 1 ZGB bemisst. Der Barunterhaltsbetrag soll den Bedürfnissen des Kindes einerseits, aber auch der Lebensstellung und Leistungsfähigkeit der Eltern andererseits, entsprechen, wobei das Vermögen und die Einkünfte des Kindes entsprechend zu berücksichtigen sind. Art. 276 Abs. 3 ZGB sieht vor dem Hintergrund der einer Unterhaltspflicht der Eltern vorgehenden Eigenverantwortung des Kindes vor, dass die Eltern von der Unterhaltspflicht in dem Mass befreit sind, als dem Kind zugemutet werden kann, seinen Unterhalt aus seinem Vermögen, eigenem Arbeitserwerb oder anderen Mitteln zu bestreiten. Bei volljährigen Kindern ist ein allfälliger Arbeitserwerb des Kindes gegebenenfalls ohnehin bereits mit Blick auf Art. 277 Abs. 2 ZGB (anteilsmässig) zu berücksichtigen. Der Umfang der Berücksichtigung des Kindeseinkommens im Rahmen der Festlegung des Unterhaltsanspruchs hängt von den Verhältnissen im Einzelfall ab, wobei die Zumutbarkeit i.S.v. Art. 276 Abs. 3 ZGB basierend auf dem Vergleich der Leistungsfähigkeit von Eltern und Kind, aber auch nach der Höhe ihrer Leistungen und dem konkreten Bedarf des Kindes zu prüfen ist. Den kantonalen Gerichten kommt bei dieser Beurteilung ein grosser Ermessensspielraum zu.

Gestützt auf die tatsächlich gelebte Lebenshaltung der Eltern hat das Kind bei einer besonders günstigen Lebensstellung der Eltern grundsätzlich Anspruch auf eine grosszügige Berechnung seines Bedarfs, der bspw. einen erhöhten Grundbedarf, die Kosten für eine Zusatzversicherung (VVG) bei der Krankenkasse oder Freizeitaktivitäten enthält. Dabei nicht zu berücksichtigen ist eine lediglich hypothetisch günstige Lebenshaltung der Eltern, die sie sich aufgrund ihres (hohen) Einkommens tatsächlich leisten könnten. Die konkrete Bedarfsermittlung des Kindes kommt nicht ohne gewisse Pauschalisierungen (bspw. betr. Grundbedarf und Wohnkostenanteil) aus und das Bundesgericht bestätigt im Urteil vom 14. Mai 2021 (5A_513/2020), mit Verweisen, dass das Abstellen auf vorgegebene Bedarfszahlen im Rahmen des richterlichen Ermessens unumgänglich und zulässig ist, sofern die erforderlichen Anpassungen basierend auf der konkreten Lebensstellung der Eltern vorgenommen werden.

In drei aktuellen Leitentscheiden vom 11. November 2019 (5A_311/2019), vom 14. Dezember 2020 (5A_365/2019) und vom 2. Februar 2021 (5A_891/2018) hat das Bundesgericht als Methode zur Unterhaltsberechnung in allen familienrechtlichen Verfahren festgehalten, dass diese schweizweit zwingend nach der zweistufig-konkreten Methode, ausgehend vom eingeschränkten familienrechtlichen Existenzminimum und mit Überschussverteilung nach «grossen und kleinen Köpfen» zu ermitteln ist. Dabei darf die Verteilregel betr. Überschuss nicht schematisch angewandt werden, sondern besondere (Einkommens- und Vermögens-) Situationen bleiben für den konkreten Fall vorbehalten. So kann bspw. bei aussergewöhnlich guten finanziellen Verhältnissen der Eltern die Überschussverteilung anders vorgenommen werden oder aber ganz von einer konkreten Berechnung abgesehen werden, wenn letztlich nur noch die Frage zentral ist, in welcher Höhe der Kinderunterhalt aus erzieherischen und/oder aus den tatsächlichen Bedarfsgründen seine obere Grenze findet. Ein minderjähriges Kind darf nicht im Rahmen der Überschussverteilung Anspruch auf eine Lebensführung geltend machen, welche den angestammten Standard vor der Trennung der Eltern überschreitet.

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II. BESONDERHEITEN DES UNTERHALTS FÜR VOLLJÄHRIGE KINDER

Das Bundesgericht hält in seinem Urteil vom 14. Mai 2021 (5A_513/2020) fest, dass ein volljähriges Kind nicht mehr auf die Betreuung durch die Eltern angewiesen ist, weshalb sich die elterliche Pflicht zur Unterstützung auf einen finanziellen Beitrag an dessen Lebensunterhalt konzentriert und damit die Berücksichtigung eines Naturalunterhalts, der in Form von Pflege und Erziehung geleistet wird, ganz wegfällt. Vor diesem Hintergrund verliert der Umstand, bei welchem Elternteil das volljährige Kind lebt und sein Zuhause hat, als Teil der Berechnungsgrundlagen seine Relevanz. Die Pflicht der Eltern zur Leistung eines finanziellen Beitrags an den gemäss vorstehenden Ausführungen festgelegten Lebensunterhalt des volljährigen Kindes ist somit anteilsmässig auf beide Elternteile, im Rahmen deren wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit aufzuteilen, wobei sich die Quote eines jeden Elternteils nach der Differenz zwischen den jeweiligen Einkommen und dem jeweiligen Bedarf, bzw. nach dem ermittelten Überschuss eines jeden Elternteils, bemisst.

Bereits mit Urteil vom 11. November 2019 (5A_311/2019) hat das Bundesgericht bezüglich dem Volljährigenunterhalt ausserdem den Grundsatz festgehalten, dass dieser maximal auf das familienrechtliche Existenzminimum, einschliesslich der konkreten Ausbildungskosten, begrenzt ist, womit das Kind nach Eintritt der Volljährigkeit nicht (mehr) von einem allfälligen Überschuss der Eltern profitieren kann.

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III. FAZIT

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Unterhaltsanspruch eines volljährigen Kindes, das aufgrund einer noch nicht abgeschlossenen Erstausbildung im Rahmen seiner Eigenversorgungskapazität nicht finanziell selbständig ist, nach Art. 285 Abs. 1 ZGB (Bedarfsberechnung), in Berücksichtigung von Art. 276 Abs. 3 ZGB und Art. 277 Abs. 2 ZGB (eigene Mittel), festzulegen ist. Dieser Barbedarf ist bei günstigen finanziellen Verhältnissen der Eltern bis maximal zur Höhe des bisher gelebten, familiären Standards zu erhöhen, wobei jedoch kein Anspruch des volljährigen Kindes auf eine Beteiligung am von den Eltern erwirtschafteten Überschuss besteht.

Die Pflicht zur Leistung des so ermittelten Unterhaltsanspruchs des volljährigen Kindes ist in der Folge anteilsmässig auf beide Elternteile zu verlegen, wobei sich die jeweilige Quote an der konkreten Leistungsfähigkeit eines jeden Elternteils zu orientieren hat.

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9. Juli 2021  / lic. iur. Melanie Schmidt


ALTERNIERENDE OBHUT MIT HÄLFTIGEN BETREUUNGSANTEILEN ALS NEUER REGELFALL

lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin

lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Mit den Urteilen vom 19. Oktober 2020 (5A_367/2020) und vom 13. November 2020 (5A_629/2019) bestätigt und präzisiert das Bundesgericht seine Rechtsprechung zur alternierenden Obhut. Gemäss Bundesgericht darf auf die Anordnung mit hälftigen Betreuungsanteilen nur verzichtet werden, wenn begründete und konkrete Gründe im Hinblick auf das Kindeswohl dagegen sprechen. Das Bundesgericht verdeutlicht damit, dass das Betreuungsmodell der alternierenden Obhut künftig zur Regel werden soll und damit die alleinige Obhut mit Besuchsrecht in den Hintergrund rückt.

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I. GRUNDSÄTZE ZUR ERMITTLUNG DER BETREUUNGSREGELUNG

Sofern sich Eltern in Bezug auf die Betreuung ihrer gemeinsamen Kinder nicht einig sind, ist nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung im Einzelfall zu entscheiden, welche Betreuungsregelung anzuordnen ist. Unterschieden wird zwischen den Betreuungsmodellen der alleinigen und der alternierenden Obhut. Bei der Anordnung einer alleinigen Obhut werden die Kinder getrennt lebender Eltern grundsätzlich von einem Elternteil betreut, wobei der andere Elternteil Anspruch auf ein Besuchsrecht hat. Bei der alternierenden Obhut handelt es sich hingegen um eine Betreuungsregelung, bei welcher die Kinder ungefähr zu gleichen Teilen (Mindestanteil bei einem Elternteil nach Bundesgericht: 30%) bei beiden Eltern leben und betreut werden. Die Regelung eines Besuchsrechts wird damit überflüssig.

Entscheidendes Kriterium für die Regelung der Betreuung ist stets das Kindeswohl. Das angeordnete Betreuungsmodell, sei es die alternierende oder die alleinige Obhut, muss zwingend mit dem Kindeswohl vereinbar sein. Das Bundesgericht hat zur Beurteilung der Frage, ob eine alternierende Obhut mit dem Kindeswohl vereinbar ist, verschiedene Kriterien entwickelt, die es vor der Anordnung zu prüfen gibt. Voraussetzung für die Anordnung einer alternierenden Obhut ist dabei stets die Erziehungsfähigkeit beider Eltern. Weiter erfordert eine alternierende Obhut von den Eltern organisatorische Massnahmen und gegenseitige Information. Die praktische Umsetzung einer alternierenden Betreuung setzt voraus, dass die Eltern fähig und bereit sind, in Kinderbelangen miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass eine fehlende Kooperationsbereitschaft der Eltern gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht leichthin angenommen werden darf. Allein aus dem Umstand, dass sich beispielsweise ein Elternteil der alternierenden Obhut widersetzt, kann gemäss Bundesgericht nicht ohne weiteres auf eine fehlende Kooperationsfähigkeit der Eltern geschlossen werden, welche einer alternierenden Obhut im Wege steht.

Zu berücksichtigen ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ferner die geographische Situation, namentlich die Distanz zwischen den Wohnungen der beiden Eltern, und die Stabilität, welche die Weiterführung der bisherigen Regelung für das Kind gegebenenfalls mit sich bringt. Eine alternierende Obhut ist demnach eher anzuordnen, wenn die Eltern das Kind schon vor der Trennung abwechselnd betreuten.

Weitere Gesichtspunkte bei der Prüfung der Anordnung einer alternierenden Obhut sind die Möglichkeit der Eltern, das noch kleine Kind persönlich zu betreuen bzw. fremd betreuen zu lassen (wobei das Bundesgericht die Eigen- und Fremdbetreuung eines Kindes grundsätzlich als gleichwertig betrachtet), das Alter des Kindes, und seine Einbettung in ein weiteres soziales Umfeld. Auch dem Wunsch des Kindes ist Beachtung zu schenken. Diese weiteren Beurteilungskriterien sind oft voneinander abhängig und je nach den konkreten Umständen des Einzelfalls für den gerichtlichen Entscheid von unterschiedlicher Bedeutung.

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II. NEUE RECHTSPRECHUNG DES BUNDESGERICHTS

Mit Urteil vom 19. Oktober 2020 (5A_367/20) hielt das Bundesgericht an seiner bisherigen Rechtsprechung, dass die konkreten Umstände im Einzelfall für die Anordnung einer alternierenden Obhut entscheidend seien, fest. Überlegungen allgemeiner Natur, wie bspw. der Umstand, dass die alternierende Betreuung insbesondere für Säuglinge und Kleinkinder bis fünf Jahre ein Entwicklungsrisiko darstellen könne, dürften nicht dazu führen, im Einzelfall keine alternierende Obhut anzuordnen. Gemäss Bundesgericht waren die Voraussetzungen einer alternierenden Obhut vorliegend erfüllt und es wurde festgehalten, die Vorinstanz habe ohne sachlich haltbare Gründe von der Anordnung einer alternierenden Obhut abgesehen. Im Ergebnis erachtete das Bundesgericht den Ermessensentscheid der Vorinstanz deshalb als willkürlich.

Im Urteil des Bundesgerichts 5A_629/2019 vom 13. November 2020 hatte sich das Bundesgericht primär mit der Frage der Auswirkungen eines Elternkonflikts auf die Betreuungsregelung zu befassen. Das Bundesgericht hielt diesbezüglich fest, dass eine alternierende Obhut nur dann nicht in Frage käme, wenn der Elternkonflikt zwischen den Eltern derart ausgeprägt und umfassend sei, dass keine Kommunikation und Einigung über die Kinderbelange erfolgen könne und damit eine alternierende Obhut mit hälftigen Betreuungsanteilen dem Kindeswohl schaden würde. Weiter führte das Bundesgericht aus, dass der Umstand, dass die Parteien nach der Trennung während mindestens fünf Monaten die hälftige Betreuung praktiziert hätten, die zuvor gelebte klassische Rollenteilung relativiere. Fünf Monate würden für kleine Kinder eine verhältnismässig lange Zeitspanne bedeuten, in welcher sie sich an eine neue Situation gewöhnen könnten. Das Bundesgericht kam somit zum Schluss, dass die Vorinstanz zu Unrecht davon ausgegangen war, dass die Voraussetzungen für eine alternierende Obhut nicht erfüllt seien. Die Beschwerde des Vaters betreffend Anordnung der alternierenden Obhut wurde gutgeheissen und die Sache an die Vorinstanz zur neuen Entscheidung zurückgewiesen.

Das Bundesgericht präzisiert mit diesen beiden neuen Urteilen seine Rechtsprechung zur alternierenden Obhut. Es macht die alternierende Obhut zum Ausgangspunkt in Betreuungsfragen, auch wenn die Eltern sich in dieser Sache uneinig sind. Bei der Frage, welche Betreuungsregelung anzuordnen ist, ist gemäss Bundesgericht in einem ersten Schritt zu prüfen, ob eine alternierende Obhut mit dem Kindeswohl vereinbar ist oder nicht. Anhand des genannten Kriterienkatalogs ist dann zu prüfen, ob im Einzelfall konkrete Gründe gegen eine alternierende Obhut sprechen. Ist dies der Fall, ist die alleinige Obhut aber nur dann anzuordnen, wenn dies zu einem für das Kind günstigeren Ergebnis führt.  

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III. FAZIT

Mit den beiden Urteilen 5A_367/2020 vom 19. Oktober 2020 und 5A_629/2019 vom 13. November 2020 verdeutlicht das Bundesgericht, dass einer alternierenden Obhut gegenüber einer alleinigen Obhut grundsätzlich der Vorzug zu gewähren ist. Damit erhebt das Bundesgericht die alternierende Obhut zum Regelfall. Eine alleinige Obhut soll nur noch angeordnet werden, wenn konkrete Gründe gegen die alternierende Obhut sprechen und zugleich die alleinige Obhut dem Kindeswohl besser entspricht. Das Bundesgericht weicht somit auch mit Blick auf das Betreuungsmodell getrennt lebender Eltern immer mehr von der klassischen Rollenverteilung ab und passt seine Rechtsprechung der gesellschaftlichen Entwicklung an. Oberste Richtschnur bleibt jedoch das Kindeswohl. Es wird deshalb auch in Zukunft stets im Einzelfall zu prüfen sein, welches Betreuungsmodell mit dem Kindeswohl am besten vereinbar ist.


31. März 2021  / lic. iur. Melanie Schmidt


DIE KINDESANHÖRUNG IN EHERECHTLICHEN VERFAHREN

lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin

lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Bei einer Trennung oder Scheidung der Ehe befinden sich die Eltern in einer Ausnahmesituation. Es gilt nach dem Scheitern der Paarbeziehung die rechtlichen Folgen zu regeln, sich persönlich und emotional mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen sowie sich auf den neuen Lebensabschnitt einzustellen. Dabei nicht vergessen gehen dürfen die von der neuen Situation betroffenen Kinder, deren aktuelle Befindlichkeit sowie deren Wünsche und Ängste im Zusammenhang mit der Neuorganisation des familiären Lebens als oberste Priorität zu gewichten sind. Die gerichtliche Kindesanhörung im Rahmen von eherechtlichen Verfahren stellt bezüglich der zu regelnden Kinderbelange (unter Ausnahme der Unterhaltsfrage) das Kindeswohl ins Zentrum des Geschehens und verfolgt dabei einen doppelten Zweck. Sie ist einerseits Ausdruck des Respekts vor dem Kind und dessen eigener Persönlichkeit, dem die Möglichkeit gegeben werden soll, seine Meinung zu äussern und zu erzählen, was es beschäftigt, was ihm am meisten Sorgen macht und was es sich in der aktuellen Situation und für die Zukunft wünscht. Andererseits verschafft sie dem Gericht bei der Beurteilung der Situation des Kindes innerhalb der Familie sowie im Hinblick auf die im Rahmen einer Trennung oder Scheidung zu regelnden Kinderbelange wichtige Grundlagen.

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I. AUSGANGSLAGE

Das Recht des Kindes auf Anhörung ergibt sich aus Art. 12 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (Kinderrechtskonvention), die für die Schweiz am 26. März 1997 in Kraft getreten ist und für alle Kinder und Jugendliche bis zum vollendeten 18. Altersjahr gilt. Darin wird festgehalten, dass ein Kind das Recht hat, seine Meinung in allen es direkt betreffenden Angelegenheiten frei zu äussern. Diese Meinung soll von den Erwachsenen angehört und bei Entscheidungen, dem Alter und der Reife des Kindes entsprechend, angemessen berücksichtigt werden. Die oberste Maxime stellt dabei gemäss Art. 3 der Kinderrechtskonvention das Wohl des Kindes dar. Im schweizerischen Recht findet sich das Anhörungsrecht des Kindes explizit beispielsweise in Art. 298 ZPO für die Kinderbelange in eherechtlichen Verfahren und in Art. 314a ZGB für Kindesschutzverfahren verankert.

Die Kindesanhörung bildet im Grundsatz einen festen Bestandteil jeder behördlichen Entscheidung, die die Interessen eines Kindes massgeblich betrifft. Sie ist in Eheschutzverfahren, im Rahmen einer formellen Trennung vor Gericht oder einer Scheidung der Eltern, aber auch in allen weiteren Verfahren vor Gericht oder vor der Kindes– und Erwachsenenschutzbehörde vorgesehen, in denen für Verheiratete, unverheiratete oder geschiedene Eltern und ihre Kinder die elterliche Sorge, die Obhut und das persönliche Kontaktrecht geregelt wird. Das Kind ist auch dann berechtigt angehört zu werden, wenn familienintern bereits eine gute Lösung gefunden werden konnte, die es nun rechtlich zu regeln oder gerichtlich zu genehmigen gilt. Neben den eherechtlichen Verfahren und den Verfahren vor Familiengericht kann sich im Bereich von Kindesschutzverfahren, bei Verwaltungsverfahren (Einbürgerung, Namensänderung, Adoption und Asyl), im Bereich von Kindergarten und Schule (Versetzungen, disziplinarische Massnahmen etc.) sowie im Gesundheitsbereich bei wichtigen, medizinischen Entscheidungen die Notwendigkeit einer Kindesanhörung ergeben.

In
familienrechtlichen Verfahren stellt die Kindesanhörung den Grundsatz dar, ein
Verzicht auf eine solche bleibt die Ausnahme. Ausnahmefälle für das Absehen von
einer Kindesanhörung können bspw. sein, dass eine Anhörung des Kindes für
dieses eine zu erhebliche, persönliche Belastung bedeutet oder aber, dass ein
Kind seine Beziehung zu einem Elternteil gar nicht beurteilen kann, weil es zu
diesem bislang keinen Kontakt hatte (BGE 124 III 90). Das Gericht entscheidet
im konkreten Fall, ob eine Kindesanhörung stattfinden soll, wobei die Teilnahme
an einer solchen dem Kind freigestellt wird. Das Bundesgericht vertritt in BGE
131 III 553 den Grundsatz, dass eine Anhörung aufgrund der Reife eines Kindes
grundsätzlich erst ab dessen 6. Altersjahr möglich ist. Dieser Grundsatz wird
in der Rechtsprechung dahingehend begründet, dass jüngere Kinder die Bedeutung
des elterlichen Konflikts für sie selber noch nicht richtig erfassen können,
weshalb für sie die Belastung durch eine gerichtliche Anhörung grösser ist, als
der Nutzen daraus. Erscheint es dem Gericht in umstrittenen Fällen für eine
angemessene Regelung der Beziehung des Kindes zu den Eltern wichtig, auch die
Bedürfnisse eines jüngeren Kindes abzuklären, werden für die Anhörung des
Kindes und die Bewertung seiner Äusserungen im Rahmen derselben externe Experten
beigezogen (BGE 127 III 295).

II. DIE ANHÖRUNG DES KINDES

Das Kind wird üblicherweise vom Gericht mit einem persönlichen Brief zur Anhörung eingeladen, wobei ihm altersentsprechend mitgeteilt wird, in welcher Angelegenheit das Gericht mit ihm das Gespräch sucht und dass es frei entscheiden darf, ob es den Anhörungstermin wahrnehmen möchte oder nicht. Selbstverständlich dürfen gerichtliche Terminvorschläge abgeändert werden, wenn sie zeitlich nicht passen oder aber das Kind darf dem Gericht mitteilen, dass es keine Anhörung wünscht. Die Kindesanhörung dauert, je nach Alter und Persönlichkeit des Kindes, der zu besprechenden Thematik und dem Verlauf des Gespräches, zwischen einer halben und einer Stunde und findet am Gericht, jedoch in einem kindgerechten Anhörungsraum, statt. Anwesend sind neben dem Kind die anhörende Fachperson (Richter/in oder Fachrichter/in) sowie allenfalls eine zweite Person, die das Protokoll führt. Das Kind wird ohne Anwesenheit der Eltern im Raum angehört. An der Anhörung wird das Kind ausführlich über den Ablauf der Anhörung, den Grund für dieselbe und die zur Diskussion stehenden Angelegenheiten sowie das weitere Vorgehen informiert. Es wird ihm altersentsprechend erklärt, was von den Erwachsenen (Eltern, Gericht, weitere involvierte Personen/Fachpersonen) im konkreten Fall bereits geplant oder entschieden worden ist und es werden im Gespräch Fragen nach der persönlichen Meinung des Kindes gestellt. Die Fragen betreffen insbesondere die aktuelle Befindlichkeit des Kindes, wie es ihm zu Hause geht, wie es in der Schule läuft, wie es seine Freizeit gestaltet, ob es Freunde und Vertrauenspersonen hat, was das Kind gerne mit der Mutter und dem Vater unternimmt, was das Kind für Ideen hätte, wie man die Familiensituation für es leichter machen könnte, was es sich wünscht und was es allenfalls bedrückt, etc. Selbstverständlich darf das Kind an der Anhörung auch konkrete Anregungen, Vorschläge und Änderungswünsche in Bezug auf seine Situation machen und Fragen stellen, wenn es etwas nicht versteht, oder wenn es zu einem Themenbereich weitere Informationen haben möchte. Die Anhörung des Kindes bleibt grundsätzlich vertraulich. Am Schluss der Anhörung werden mit dem Kind die Inhalte des erstellten Protokolls noch einmal durchgegangen um sicherzustellen, dass die Aussagen des Kindes richtig verstanden wurden. Es steht dem Kind frei, Äusserungen, die es im Protokoll nicht angemerkt haben möchte, streichen zu lassen. In familienrechtlichen Verfahren wird den Eltern nach der Kindesanhörung die protokollierte Zusammenfassung des Gesprächs zugestellt oder der Inhalt desselben mündlich erläutert. Von grosser Wichtigkeit ist, dass sich das Kind und auch die Eltern über den Zweck und die Grenzen der Kindesanhörung im Klaren sind. Diese werden dem Kind anlässlich der Anhörung erläutert und aufgezeigt. Im Sinne des Kindeswohles soll das Kind keine grundsätzlichen Entscheidungen in den zu regelnden Themenbereichen treffen müssen oder eine Verantwortung aufgebürdet bekommen, die es überfordert. Das Kind soll darauf vertrauen können, seine Meinung frei äussern zu dürfen und ernst genommen zu werden. Dabei soll es wissen, dass die Entscheidlast von den involvierten, erwachsenen Personen getragen wird. Eine gerichtliche Anhörung stellt für die meisten Kinder eine neue Erfahrung dar, die sie jedoch üblicherweise nicht als belastend empfinden. Insbesondere in schwierigen, konfliktgeladenen familiären Situationen kann die Anhörung des Kindes für dieses zu einer Entlastung beitragen, da das Kind im Rahmen derselben Informationen und Erklärungen erhält und sich damit auf anstehende Veränderungen besser einstellen kann oder bereits erfolgte Veränderungen besser verstehen kann. Kinder möchten bei familiären Veränderungen informiert und einbezogen werden und es stärkt sie nachweislich, wenn ihre eigenen Ideen, Wünsche oder Ängste gehört werden und in die Entscheidfindung einfliessen können.

III. DIE ROLLE DER ELTERN BEI DER KINDESANHÖRUNG

In jeder familienrechtlichen Ausnahmesituation ist es für das Kindeswohl von grosser Wichtigkeit, dass Eltern und Kinder, nach Möglichkeit miteinander, über die anstehenden Veränderungen offen und altersgerecht sprechen. So wird dem Kind ermöglicht, sich im Rahmen der familiären Veränderung zu orientieren und seinen eigenen Standpunkt zu finden. Im Hinblick auf die Kindesanhörung ist das Kind auf die wohlwollende Unterstützung beider Elternteile angewiesen, wobei die Eltern ihrem Kind erklären können, dass seine eigene Meinung wichtig ist und gehört werden will, eine Entscheidung aber letztlich von den Erwachsenen getroffen wird und diese für die Entscheidung auch die Verantwortung übernehmen. Die Entscheidung für oder gegen eine Kindesanhörung ist, nach erfolgter Einladung durch das Gericht, jedoch dem Kind selber zu überlassen, wobei es hilfreich ist, mit dem Kind zusammen die ihm vom Gericht zugestellte Einladung zur Anhörung mit den dazu gehörigen Beilagen gemeinsam durchzugehen. Eltern, die Bedenken oder Vorbehalte gegenüber der angesetzten Kindesanhörung haben, können sich mit ihren Fragen oder Befürchtungen an die Fachperson beim Gericht wenden.

Die Aussagen des Kindes bei der Anhörung sind seine höchst persönliche Angelegenheit. Es darf äussern, was es möchte und für sich behalten, was es nicht sagen will. Dabei darf das Kind genau so reden, «wie ihm der Schnabel gewachsen ist», – es gibt kein Richtig und kein Falsch. Das Kind darf und soll von den Eltern keinesfalls als Sprachrohr für ihre eigenen Ansprüche oder Befindlichkeiten instrumentalisiert werden, ansonsten der Sinn und Zweck der Kindesanhörung, d.h. die freie Meinungsäusserung sowie die Inanspruchnahme des Informationsrechts durch das Kind, zunichte gemacht wird. Eine Beeinflussung des Kindes durch den einen gegen den anderen Elternteil, eine Vorinstruktion des Kindes oder die Äusserung einer Erwartungshaltung an das Kind durch einen oder beide Elternteile widerspricht überdies dem Kindeswohl diametral. Durch ein solches Verhalten, wird der, einer Trennungs- oder Scheidungssituation für das Kind immanente, Loyalitätskonflikt gegenüber seinen Eltern unnötig und über Gebühr verstärkt.

IV. DER EINFLUSS DES KINDESANHÖRUNG AUF DEN GERICHTLICHEN ENTSCHEID

Der Inhalt der Kindesanhörung wird im Rahmen der jeweiligen gerichtlichen Entscheidung möglichst umfassend berücksichtigt. Wie weit die Möglichkeiten des Kindes zur Mitwirkung im Rahmen der gerichtlichen Entscheidfindung Einlass finden, steht jedoch im Ermessen des Gerichts und ist abhängig von der Natur der zu beurteilenden Angelegenheit aber auch vom Alter des Kindes und von seinen Bedürfnissen. Ein Erwachsenenkonflikt muss von Erwachsenen gelöst werden und das Gericht ist im Rahmen der in Kinderbelangen geltenden Offizialmaxime gehalten, unter Mitwirkung aller beteiligten Parteien die bestmögliche Lösung im Sinne des Kindeswohles zu finden.


3. Juni 2020 / lic. iur. Melanie Schmidt


NEUER SCHUTZ VOR SCHEIDUNGSRISIKEN (VORAUSSCHEIDUNGSKONVENTION/ EHEVERTRAG MIT REGELUNG DER SCHEIDUNGSNEBENFOLGEN)

lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin unter Mithilfe von MLaw Giada Cassis

lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Bei bestehendem gemeinsamem Scheidungswillen gibt das Gesetz den Ehegatten die Möglichkeit, sich über die Scheidungsfolgen zu einigen und dem Gericht im Rahmen eines gemeinsamen Scheidungsbegehrens eine entsprechende Vereinbarung (Scheidungskonvention) einzureichen. Diese Vereinbarung wird vom Gericht auf ihre Vollständigkeit und Klarheit sowie auf offensichtliche Unangemessenheit hin überprüft und genehmigt, sofern es sich davon überzeugen kann, dass die Ehegatten sie aus freiem Willen und nach reiflicher Überlegung geschlossen haben.

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Inwieweit dürfen sich die Ehegatten bereits im Voraus – d.h. bei noch nicht bestehender Scheidungsabsicht und ausserhalb eines Scheidungsverfahrens – über die Folgen einer allfälligen Scheidung verbindlich einigen?

I. BISHERIGE RECHTSPRECHUNG

Gemäss Lehre und Rechtsprechung konnten die Ehegatten bis anhin zahlreiche Nebenfolgen der Scheidung nicht im Voraus regeln. Gemäss Gesetz sind Scheidungsvereinbarungen erst rechtsgültig, wenn das Gericht sie genehmigt hat (Art. 279 Abs. 2 ZPO). Dies bedeutet, dass einem von beiden Ehegatten unterzeichneten Scheidungsvertrag keine Rechtsbindung zukommt, bis er gerichtlich genehmigt wird. Die Bindungswirkung tritt gemäss herrschender Lehre erst ein, wenn die Vereinbarung in der Anhörung vor Gericht von den Parteien nochmals bestätigt wird. Vor diesem Zeitpunkt ist sie hingegen beliebig widerrufbar (vgl. Bähler, in: Basler Kommentar ZPO, 3. Auflage, N 2 zu Art. 288). Hintergrund dieser Regelung sind unterschiedliche Schutzgedanken des Gesetzgebers, die an dieser Stelle nicht vertieft werden können. Dem Gericht eine solche Vorausvereinbarung gegen den Willen eines Ehegatten zur Genehmigung einzureichen, war von vornherein erfolglos, zumal schon die grundlegende Voraussetzung des gemeinsamen Scheidungswillens bzw. des gemeinsamen Scheidungsbegehrens fehlte. Auch im Rahmen des Abschlusses von Eheverträgen ist eine Regelung der Scheidungsfolgen gesetzlich nicht vorgesehen. Zwar darf ein Ehevertrag bereits vor und jederzeit nach der Heirat geschlossen werden, inhaltlich ist er aber auf die Wahl des Güterstandes beschränkt (Art. 182 ZGB). Raum für die ehevertragliche Regelung des nachehelichen Unterhalts, des Vorsorgeausgleichs oder von weiteren Scheidungsfolgen gibt es vor der Scheidung bzw. vor bestehendem Scheidungswillen der Ehegatten nicht.

II. NEUER BUNDESGERICHTSENTSCHEID

Wider Erwarten hat das Bundesgericht in einem neuen Entscheid seine bisherige Rechtsprechung trotz des (eigentlich) klaren Gesetzestextes grundlegend geändert. Im Urteil 5A_778/2018 vom 23. August 2019 ist das Bundesgericht zum Schluss gekommen, dass die Verlobten sich schon vor Abschluss der Ehe – und die Eheleute jederzeit in deren Verlauf trotz noch fehlender Scheidungsabsicht – hinsichtlich der Scheidungsfolgen verbindlich verpflichten können. Inhalt einer entsprechenden Vereinbarung können insbesondere (neu) auch die Regelung des nachehelichen Unterhalts und des Vorsorgeausgleichs sein. Ausgeschlossen bleibt hingegen nach wie vor die Regelung der Kinderbelange, denn diesbezüglich gilt die Offizialmaxime, wonach das Gericht nicht an die Parteianträge
(-vereinbarungen) gebunden ist (Art. 296 Abs. 3 ZPO).

Das Bundesgericht hat seinen neuen Entscheid damit begründet, dass zwischen den Parteien grundsätzlich Vertragsfreiheit herrsche (vgl. Art. 168 ZGB) und das Gesetz keine spezielle Regel enthalte, die eine «Scheidungsvereinbarung auf Vorrat» verbiete (vgl. E. 5.5.). Im Rahmen des Scheidungsverfahrens habe das Gericht deswegen nur noch zu prüfen, ob die Scheidungsvereinbarung damals, d.h. im Zeitpunkt der Unterzeichnung, aus freiem Willen und nach reiflicher Überlegung geschlossen wurde, sowie ob sie klar, vollständig und – ausgehend von den aktuellen, d.h. im Scheidungszeitpunkt geltenden, wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien – nicht offensichtlich unangemessen sei (Art. 279 Abs. 1 ZPO). In jedem Fall hat das Gericht zu prüfen, ob trotz der Vereinbarung eine angemessene Altersvorsorge der Ehegatten gesichert ist. Da eine Scheidungsvereinbarung aber erst rechtsgültig wird, wenn das Gericht sie genehmigt hat (Art. 279 Abs. 2 ZPO), haben die Parteien in einem durch Klage eingeleiteten Scheidungsverfahren die Möglichkeit, dem Gericht die Nichtgenehmigung der zwar bindenden, aber noch nicht rechtsgültigen Vereinbarung zu beantragen (E. 5.6.). Es kommen dafür die allgemeinen Bestimmungen der Vertragsanfechtung gemäss Art. 20 ff. OR oder zum Schutz vor übermässiger Bindung im Sinne von Art. 27 Abs. 2 ZGB zur Anwendung. Der Schutz vor übermässiger Bindung greift insbesondere dann, wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien gegenüber dem Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung in nicht vorhersehbarer Weise geändert haben.

Was die Form dieser Vereinbarung betrifft, geht das Bundesgericht von der absoluten Vertragsfreiheit der Parteien aus und schreibt weder einen Mindestinhalt noch eine besondere Form vor (E. 5.5.). Diesbezüglich verliert das Bundesgericht kein weiteres Wort, selbst wenn eine Begründung begrüssenswert gewesen wäre. Insbesondere liefert das Bundesgericht keine Erklärung dafür, warum die Regelung des Güterstandes im Rahmen des Abschlusses eines Ehevertrags eine öffentliche Beurkundung benötigt, eine Vereinbarung über den nachehelichen Unterhalt und den Vorsorgeausgleich dagegen formfrei abgeschlossen werden kann. Zu dieser Diskrepanz hat sich ein Teil der Lehre bereits kritisch ausgesprochen. Hauptthema der Kritik ist die Rechtssicherheit. Es bleibt somit abzuwarten, ob das Bundesgericht seinen «Pionierentscheid» künftig bestätigen und verdeutlichen wird. 

III. FAZIT

Die neue bundesgerichtliche Rechtsprechung eröffnet Verlobten und Ehegatten einen neuen Weg, sich für den Scheidungsfall vorsorglich (zum Voraus) abzusichern und die Regelung der Scheidungsfolgen vor dem Eintritt des Konfliktfalles für alle Beteiligten klar festzuhalten. Es ist so bspw. möglich, über die Festlegung der nachehelichen, persönlichen Unterhaltsbeiträge zu Gunsten eines Ehegatten einen von den Ehegatten unterschiedlich gelebten Lebensstandard zu fixieren, bevor die Scheidung aktuell wird. Bis Rechtssicherheit über die umfassende Gültigkeit solcher Vorausscheidungskonventionen eintritt, ist im Einzelfall Vorsicht geboten, zumal noch unklar ist, wie streng die Inhaltskontrolle im Rahmen der gerichtlichen Genehmigung ausfallen wird und wie das Bundesgericht solche Fälle in der Zukunft entscheidet. Es ist aktuell zumindest zu empfohlen, Vereinbarungen über die Scheidungsfolgen zusammen mit der Wahl des Güterstandes im Rahmen eines Ehevertrages zu treffen und diesen, entsprechend den gesetzlichen Vorschriften, von einem Notar öffentlich beurkunden zu lassen (Art. 184 ZGB).


3. Februar 2020 / lic. iur. Melanie Schmidt


BERECHNUNG DES BETREUUNGSUNTERHALTS GEMÄSS GRUNDSATZENTSCHEID DES BUNDESGERICHTS NEU GEMÄSS DEM «SCHULSTUFENMODELL»

lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin

lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Mit Urteil vom 21. September 2018 (5A_384/2018) fällt das Bundesgericht nach dem wegweisenden Urteil vom 17. Mai 2018 (5A_454/2017) einen weiteren Grundsatzentscheid bezüglich der Anwendung des seit 1. Januar 2017 geltenden, revidierten Kinderunterhaltsrechts und hält fest, dass für die Festlegung des Betreuungsunterhalts die zumutbare Erwerbstätigkeit des die Kinder betreuenden Elternteils grundsätzlich das «Schulstufenmodell» anzuwenden ist. Damit wird die bisher höchstrichterlich geltende sogenannte 10/16-Regel hinfällig, die besagte, dass der Elternteil, dem bei der Trennung oder Scheidung die Kinder in Obhut gegeben wurden und der bislang keiner Erwerbstätigkeit nachging, ab dem 10. Lebensjahr des jüngsten Kindes ein Arbeitspensum von 50 % und ab dessen 16. Lebensjahr eine Vollzeitstelle aufnehmen müsse. Das Bundesgericht definiert die zumutbare Ausschöpfung der Eigenversorgungskapazität des hauptbetreuenden Elternteils damit neu, lässt jedoch Raum für richterliches Ermessen im Einzelfall.

I. AUSGANGSLAGE

Mit der Revision des Kindesunterhaltsrechts per 1. Januar 2017 wurde im Rahmen des Kindesunterhalts nebst den direkten Kosten des Kindes für Nahrung, Kleidung, Wohnen, Hobbies etc. neu auch der Betreuungsunterhalt eingeführt. Der Betreuungsunterhalt soll die indirekten Kosten, die aufgrund der persönlichen Betreuung der Kinder durch einen Elternteil entstehen, wenn dieser Elternteil während der Betreuungszeit keiner eigenen Erwerbstätigkeit nachgehen kann, abdecken. Unabhängig vom Zivilstand der Eltern werden damit die finanziellen Folgen aus dem Zeitaufwand für die persönliche Kinderbetreuung den Eltern gemeinsam auferlegt. Vor der Revision des Kindesun- terhaltsrechts wurden persönliche Betreuungsleistungen einzig bei verheirateten Eltern – über den ehelichen oder nachehelichen Unterhalt – abgegolten. Im Sinne der bisher geltenden 10/16-Regel musste der Elternteil, dem bei der Trennung oder Scheidung die Kinder in Obhut gegeben wurden und der bislang keiner Erwerbstätigkeit nachging, ab dem 10. Lebensjahr des jüngsten Kindes ein Arbeitspensum von 50 % und ab dessen 16. Lebensjahr eine Vollzeitstelle aufnehmen, resp. wurde ihm im Rahmen der Unterhaltsberechnung ein entsprechendes hypothetisches Einkommen angerechnet.

II. GRUNDSATZ: «SCHULSTUFENMODELL» ANSTELLE DER BISHER GELTENDEN 10/16-REGEL

Das Bundesgericht kommt in seinem aktuellen Entscheid zum Schluss, dass die bisher geltende 10/16-Regel einerseits für den Betreuungsunterhalt nicht sachgerecht und andererseits auch nicht mehr der heutigen gesellschaftlichen Realität entsprechend sei. Es hält fest, dass gemäss der Botschaft des Bundesrates zum neuen Kindesunterhaltsrechts die Eigen- und Fremdbetreuung von Kindern grundsätzlich gleichwertig seien, und kommt zum Schluss, dass in diesem Sinne keine verallgemeinerungsfähige Vermutung zugunsten des einen oder anderen Betreuungsmodells bestehe. Die Eltern würden grundsätzlich darüber entscheiden, welche Betreuungsform für ihre Kinder geeignet sei und wie sich der zeitliche Umfang von Eigen- und Fremdbetreuung im konkreten Fall gestalte. Das Bundesgericht hält fest, dass das Kindeswohl jedoch nach klaren und stabilen Verhältnissen verlange, weshalb bei fehlender Einigung der Eltern im Trennungs- oder Scheidungsfall gestützt auf das Kontinuitätsprinzip in einer ersten Phase das von den Eltern vor der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts vereinbarte, resp. gelebte, Betreuungsmodell fortzuführen sei. Für die weitere Zeit oder wenn keine elterliche Vereinbarung über das Betreuungsmodell für die Kinder besteht, erklärt das Bundesgericht neu das «Schulstufenmodell» als anwendbar. Gestützt darauf soll der hauptbetreuende Elternteil ab der obligatorischen Einschulung des jüngsten Kindes (in der Mehrheit der Kantone, u.a. im Kanton Aargau, ab Eintritt in den Kindergarten, in verschiedenen Kantonen aber nach wie vor ab dem eigentlichen Schuleintritt) grundsätzlich zu 50 % einer Erwerbstätigkeit nachgehen, ab dem Eintritt des jüngsten Kindes in die Sekundarstufe einer solchen zu 80 % sowie ab dem vollendeten 16. Altersjahr des jüngsten Kindes in einem 100 %-Pensum erwerbstätig sein. Das Bundesgericht führt zum neu anwendbaren «Schulstufenmodell» aus, dass der hauptbetreuende Elternteil mit der Einschulung des Kindes während der Schulzeit von der persönlichen Betreuung des Kindes entlastet werde und sich die schulische Betreuung des Kindes im Laufe der Jahre ausdehne. Dieser Umstand sowie die allgemeine (altersentsprechende) Entwicklung des Kindes liessen eine Erweiterung des zumutbaren Erwerbspensums des hauptbetreuenden Elternteils im Sinne einer Richtlinie nach Schulstufen des Kindes als angezeigt erscheinen.

III. RICHTERLICHES ERMESSEN

Vom Grundsatz des «Schulstufenmodells» kann der Richter bei zureichenden Gründen im Rahmen seiner Ermessensausübung im Einzelfall abweichen, so wenn bspw. bei mehreren Kindern die verbleibende ausserschulische Betreuungslast (Aufgabenhilfe, Vorkehrungen im Krankheitsfall, Kindergeburtstage, Ausübung von Hobbies etc.) ungleich grösser sind als bei nur einem Kind und eine Erhöhung der Erwerbstätigkeit des hauptbetreuenden Elternteils nach dem «Schulstufenmodell» als nicht zumutbar erscheint. Das Bundesgericht weist im Zusammenhang mit der Ermessensausübung des Richters ausserdem darauf hin, dass sich eine erhöhte Betreuungslast bspw. auch durch eine Behinderung des Kindes ergeben kann. Darüber hinaus, insbesondere auch für Kinder im Vorschulalter, hat der Richter gemäss Bundesgericht zu prüfen, ob im konkreten Einzelfall angemessene vor- oder ausserschulische Betreuungsangebote bestehen, die den hauptbetreuenden Elternteil von der persönlichen Betreuung des Kindes entlasten können. Diese Prüfung ist gemäss Bundesgericht insbesondere dann vorzunehmen, wenn im konkreten Einzelfall knappe finanzielle Mittel vorliegen und eine Aufnahme/ Ausdehnung der Erwerbstätigkeit des hauptbetreuenden Elternteils ökonomisch sinnvoll erscheint, d.h. wenn dieser trotz den Kosten für eine angemessene Drittbetreuung ein eigenes Einkommen erwirtschaften kann.

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3. Oktober 2018 / lic. iur. Melanie Schmidt


KINDERUNTERHALT: ANWENDUNG DER «LEBENSHALTUNGSKOSTEN- METHODE» FÜR DIE BERECHNUNG DES BETREUUNGSUNTERHALTES VON KINDERN BUNDESGERICHTLICH GEKLÄRT

lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin

lic. iur. Melanie Schmidt, Rechtsanwältin bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Das Bundesgericht hat mit Urteil vom 17. Mai 2018 (5A_454/2017) – das Datum der Veröffentlichung des Urteils mit schriftlicher Begründung ist noch nicht bekannt – einen Grundsatzentscheid zur Bemessungsmethode des Betreuungsunterhalts für Kinder erlassen und leistet damit der herrschenden Uneinigkeit in Lehre und Rechtsanwendung Abhilfe. Der Betreuungsunterhalt für Kinder soll gestützt auf den höchstrichterlichen Entscheid nach der sog. «Lebenshaltungskosten-Methode» berechnet werden und umfasst somit grundsätzlich das familienrechtliche Existenzminimum des betreuenden Elternteils, soweit dieser wegen der Kinderbetreuung nicht selber dafür aufkommen kann.

I. AUSGANGSLAGE

Per 1. Januar 2017 wurde die Unterhaltspflicht der Eltern für ihre Kinder neu geregelt. Mit dieser Gesetzesnovelle wurden im Wesentlichen zwei Ziele verfolgt. Erstens soll die Ungleichbehandlung von Kindern verheirateter und unverheirateter Eltern beseitigt werden. Zweitens soll der Unterhaltsanspruch des Kindes durch verschiedene Massnahmen gestärkt werden, bspw. dadurch, dass der Unterhaltsanspruch des minderjährigen Kindes gestützt auf Art. 276a Abs. 1 ZGB anderen familienrechtlichen Verpflichtungen vorgeht.

Unabhängig vom Zivilstand der Eltern soll der Unterhalt des Kindes sicherstellen, dass es von der bestmöglichen Betreuung profitieren kann, sei es durch die Eltern selbst oder durch Drittpersonen. Während die Fremdbetreuungskosten seit jeher in die Berechnung des Barunterhalts des Kindes einflossen, wurde es erst mit der Gesetzesänderung möglich, die Eigenbetreuung durch einen Elternteil über die Zusprechung eines Betreuungsunterhaltes zu gewährleisten. Der Kindesunterhalt besteht gemäss den Art. 276 und 285 ZGB neu aus dem Barunterhalt, der die direkten Kosten des Kindes abdeckt (bspw. Wohnkosten, Nahrung, Ausbildung, Drittbetreuung), dem Naturalunterhalt (der in Form von alltäglicher Betreuung erbracht wird) sowie dem Betreuungsunterhalt (der der finanziellen Einbusse des betreuenden Elternteils durch die persönliche Betreuung des Kindes bzw. deren Auswirkung auf die Deckung des Lebensunterhalts durch einen entsprechend verminderten Beschäftigungsgrad entspricht). Unverändert gilt jedoch, dass ein Eingriff in das Existenzminimum des Unterhaltsverpflichteten unzulässig ist. Ein allfälliges Manko ist somit nach wie vor vom Unterhaltsberechtigten zu tragen (Botschaft zu einer Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Kindesunterhalt] vom 29. November 2013, BBl 2014 529 ff., S. 540 und S. 589, FN 3).

Das Gesetz legt die Methode zur Bemessung des Betreuungsunterhaltes nicht fest, was in der Rechtsanwendung zu teilweise grundlegend unterschiedlichen Berechnungen des Betreuungsunterhaltes und damit letztlich zu einer Rechtsunsicherheit führte. Mit Spannung wurde deshalb auf einen ersten höchstrichterlichen Entscheid in dieser Frage gewartet.

II. BERECHNUNGSMETHODE BETREUUNGSUNTERHALT GEMÄSS BUNDESGERICHT

Gemäss Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 17. Mai 2018 hat das Bundesgericht gleichentags einen Grundsatzentscheid bezüglich der auf die Berechnung des Betreuungsunterhaltes anzuwendenden Methode gefällt. In der öffentlichen Beratung wurde entschieden, dass für die Bemessung des Betreuungsunterhaltes für die gemeinsamen Kinder von verheirateten oder unverheirateten Eltern die «Lebenshaltungskosten-Methode» zur Anwendung kommen solle. Nach dieser Methode wird im Einzelfall der Betrag berechnet, der dem betreuenden Elternteil bedingt durch die persönliche Kinderbetreuung fehlt, um seine eigenen Lebenshaltungskosten zu decken. Das Bundesgericht hält fest, dass diese Methode die zur Bemessung des Betreuungsunterhalts adäquateste Lösung darstelle, am besten den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen entspreche und überdies auch von einem grossen Teil der Lehre befürwortet werde. Das Bundesgericht verweist darauf, dass der Bundesrat in seiner Botschaft zur Gesetzesänderung festgehalten habe, dass im Normalfall die Erwerbsmöglichkeiten des Elternteils eingeschränkt würden, der die Betreuung des Kindes überwiegend übernehme. In der Mehrheit der Fälle führe dies dazu, dass der betreuende Elternteil nicht mehr selber für seinen eigenen Unterhalt aufkommen könne. Dies wiederum bedeute, dass der Betreuungsunterhalt grundsätzlich die konkreten Lebenshaltungskosten des betreuenden Elternteils umfassen müsse, soweit er diese wegen der Kinderbetreuung nicht selber bestreiten könne. Die Zahlung sei aber nicht als «Lohn» für den betreuenden Elternteil zu verstehen. Weiter hält das Bundesgericht fest, dass die Betreuung eines Kindes nur für die Zeit, in der der betreuende Elternteil sonst einer Erwerbstätigkeit nachgehen könnte, zu einem Anspruch auf Unterhalt nach der «Lebenshaltungskosten-Methode» führe. Damit bleibt die Bereuung eines Kindes am Wochenende oder während sonstiger freier Zeit grundsätzlich unberücksichtigt. Es bestätigt damit den Vorschlag zur Methodenwahl von Prof. Dr. Stephan Hartmann (STEPHAN HARTMANN, Betreuungsunterhalt – Überlegungen zur Methode der Unterhaltsbemessung, in: ZBJV 02/2017 vom 15.2.2017), der auch vom Obergericht des Kantons Aargau zur Anwendung gebracht wird. Damit dürften die übrigen in der Botschaft zur Gesetzesänderung diskutierten und in diversen Kantonen bisher angewandten Berechnungsmethoden des sog. «Opportunitätskostenansatzes», gemäss welchem die Zeit, die der betreuende Elternteil für die Kinderbetreuung aufwendet, als Mindereinkommen zu bewerten ist, oder aber des sog. «Marktkosten- oder Ersatzkostenansatzes», bei welchem auf die Kosten abgestellt wird, welche bei einer Entschädigung des Betreuungsaufwandes zu Marktpreisen anfallen würde (Botschaft zu einer Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Kindesunterhalt] vom 29. November 2013, BBl 2014 529 ff., S. 540), vom Tisch sein.

Das Bundesgericht äussert sich im Rahmen des aktuellen Urteils nicht zur Frage, nach welchen Kriterien darüber zu entscheiden ist, ob anstatt der persönlichen Betreuung durch einen Elternteil allenfalls eine Drittbetreuung zu ermöglichen oder eine solche gar vorzuziehen sei. Es hält fest, dass es im Rahmen der Festlegung des Betreuungsunterhalts im konkreten Einzelfall dem Richter überlassen sei, über die Form und den Umfang der für das Wohl des Kindes erforderlichen Betreuung zu entscheiden. Dabei sei jedoch zu berücksichtigen, dass die Lebenshaltungskosten grundsätzlich nicht über das hinausgingen, was notwendig sei, um es dem betreuenden Elternteil finanziell zu ermöglichen, sich selber um das Kind zu kümmern. Vor diesem Hintergrund bemisst sich der Betreuungsunterhalt denn auch nicht nach dem Einkommen des Unterhaltsverpflichteten oder einem allenfalls hohen bisherigen Lebensstandard des Unterhaltsberechtigten, sondern nach den konkreten Bedürfnissen des das Kind betreuenden Elternteils. Als Grundlage für die Berechnung dieser Bedürfnisse dient das familienrechtliche Existenzminimum.

III. UMFANG UND DAUER DES BETREUUNGSUNTERHALTS

Zur Festlegung des Umfangs und der Dauer des Betreuungsunterhalts hat sich das Bundesgericht im aktuellen Entscheid nicht neu geäussert. Obwohl in der Rechtsanwendung die Tendenz erkennbar ist, die Altersgrenzen der zu betreuenden Kinder bezüglich der Zumutbarkeit einer Ausdehnung der Erwerbstätigkeit des unterhaltsberechtigten Elternteils nach unten zu verschieben, ist bis auf weiteres auch unter dem neuen Recht grundsätzlich von der sog. «10/16-Regel» auszugehen (HANS-MARTIN ALLEMANN, Betreuungsunterhalt – Grundlagen und Bemessung, in: Jusletter vom 11.7.2016, S. 14 und 19). Im Normalfall ist somit grundsätzlich ein Betreuungsunterhalt zu leisten, bis das jüngste Kind das 16. Altersjahr vollendet hat. Die Botschaft zur Gesetzesnovelle hält fest, dass bei der Bemessung die Beteiligung des anderen Elternteils an der Kinderbetreuung nur dann zu berücksichtigen sei, wenn sie über die Ausübung eines gewöhnlichen Besuchsrechts hinausgeht. Wird ein grosszügiges Kontaktrecht vereinbart, findet dieser Umstand aber nicht im Rahmen des Betreuungsunterhalts in die Unterhaltsberechnung Einlass, sondern über eine Aufteilung des Grundbetrages und/oder der variablen direkten Kosten im Rahmen des Barunterhalts, bspw. Nahrung oder Auslagen für Hobby (Botschaft zu einer Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Kindesunterhalt] vom 29. November 2013, BBl 2014 529 ff., S. 550 ff.).

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23. Mai 2018 / lic. iur. Melanie Schmidt

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