OBHUT UND BESUCHSRECHT BEI GEMEINSAMER ELTERLICHER SORGE – WAS WENN EIN ELTERNTEIL WEIT WEG ZIEHT?

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt unter Mithilfe von Simona Serratore (M.A. HSG)

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Entscheidet sich ein Elternteil dafür, aufgrund eines Jobwechsel, neuer Partnerschaft oder aus sonstigen Gründen vom bisherigen Wohnort wegzuziehen – egal ob er ins Ausland geht oder innerhalb der Schweiz verbleibt –, bedarf dies unter Umständen der Zustimmung des anderen Elternteils. Können sich die Eltern nicht auf eine neue, angepasste Betreuungsregelung einigen, entscheidet die Kindesschutzbehörde oder das Gericht. Der folgende Beitrag bietet eine Übersicht über die Folgen des seit Sommer 2014 geltenden „Zügelartikels“.

I. RECHTSFOLGEN DER ZGB-REVISION PER 1. JULI 2014

Nach der Teilrevision des Zivilgesetzbuches zum Sorgerecht, welche am 1. Juli 2014 in Kraft trat, wurde als neuer allgemeiner Grundsatz die gemeinsame elterliche Sorge festgelegt, der sowohl für verheiratete wie auch geschiedene und getrennt lebende ledige Eltern gilt. Gleichzeitig wurde der sogenannte „Zügelartikel“, Artikel 301a Abs. 1 ZGB, eingeführt, welcher besagt, dass die elterliche Sorge neu auch das Recht einschliesst, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen (dies war unter altem Recht noch eine Frage der Obhut). Der Zügelartikel bestimmt in Absatz 2 weiter, dass sofern die elterliche Sorge gemeinsam ausgeübt wird, es der Zustimmung des anderen Elternteils bedarf, wenn ein Elternteil mit dem Kind ins Ausland ziehen will oder der Wechsel des Aufenthaltsortes (im Inland) erhebliche Auswirkungen auf die Ausübung der elterlichen Sorge und den persönlichen Verkehr durch den anderen Elternteil hat. Mit dieser Vorschrift wollte der Gesetzgeber die Eltern dazu verpflichten, sich vor einem Umzug über eine allfällig nötige Neugestaltung der Kindsbetreuung Gedanken zu machen und diese sofern nötig anzupassen. Bei fehlender Einigkeit entscheidet die zuständige Kindesschutzbehörde bzw. das Gericht.

Seit der Gesetzesänderung hat das Bundesgericht einige Urteile zu diesem Thema gefällt, die bei der Auslegung und folglich Anwendung in der Praxis den Weg weisen.

II. ABHÄNGIGKEIT VON EINER ZUSTIMMUNG

Nebst dem sogenannten klassischen Besuchsrechtsmodell, wo ein Elternteil ganz oder überwiegend Bezugsperson des Kindes ist, wird von getrennt lebenden Eltern auch immer öfters ein Betreuungsmodell gewählt, das den anderen Elternteil mehr einbezieht: Das Kind sieht bspw. den anderen Elternteil nicht mehr nur jedes zweite Wochenende, sondern wird von ihm im Sinne eines „verlängerten Wochenendes“ am Freitag von der Schule abgeholt respektive am Montag hingebracht. In anderen Fällen wird gar im Sinne der sogenannten „alternierenden Obhut“ eine 50/50 Betreuung durch die Eltern gelebt.

Der Zügelartikel schreibt bei einem Umzug innerhalb der Schweiz nur in denjenigen Fällen eine Zustimmung des nicht umziehenden Elternteils vor, in welchen sich der Wohnortwechsel auch tatsächlich auf die Ausübung der Kindsbetreuung auswirkt. Mit dieser Formulierung sind somit nicht nur Fälle von alternierender Obhut erfasst, sondern auch Fälle, wo der besuchsrechtberechtigte Elternteil das Kind nur jedes zweite Wochenende sieht. Ob es im Endeffekt einer Zustimmung bedarf, ist im Einzelfall zu prüfen. Es liegt allerdings auf der Hand, dass in Fällen, wo bspw. der besuchsberechtigte Vater die Kinder nur jedes zweite Wochenende sieht, eine grössere Distanz zwischen den Wohnorten der Eltern eher hinzunehmen ist, als wenn der Vater die Kinder auch noch in den (neuen) Kindergarten bzw. Schule fahren muss.

III. KINDESWOHL ALS MASSGEBENDES HAUPTKRITERIUM

Da bei der Regelung von Kinderbelangen weiterhin das Kindeswohl massgebend ist, stellt sich im Anwendungsfall hauptsächlich die Frage, ob es für das Kind besser ist, mit dem wegziehenden Elternteil mitzugehen oder beim zurückbleibenden Elternteil zu verbleiben. Gestützt auf den Zügelartikel kann also niemandem verboten werden, seinen Wohnort zu wechseln. Allerdings kann es je nach Situation zu einer Neuzuteilung der Obhut kommen. Gemäss Bundesgericht haben je nach Einzelfall das gewählte Betreuungsmodell, die Anzahl Kinder, deren Alter und konkreten Bedürfnisse sowie die zeitliche Flexibilität der Eltern, die konkreten Umstände des Wegzuges und insbesondere die Frage der Entfernung kleinere oder grössere Auswirkungen. Darüber hinaus können insbesondere in Fällen von alternierender Obhut auch Kriterien wie familiäres und wirtschaftliches Umfeld, die Stabilität der Verhältnisse, Sprache und Beschulung, die gesundheitlichen Bedürfnisse des Kindes oder – bei älteren Kindern – der Wille des Kindes zur Festlegung der bestmöglichsten Lösung herangezogen werden; letzteres natürlich nur, wenn er sich mit den Betreuungsmöglichkeiten des Elternteils vereinbaren lässt.

Sofern bis anhin also ein Elternteil die alleinige oder hauptsächliche Bezugsperson des Kindes war, kann in den meisten Fällen davon ausgegangen werden, dass das Wohl des Kindes am besten gewahrt ist, wenn das Kind auch bei dieser Person verbleibt. Dies ist insbesondere bei jüngeren Kindern der Fall, die bspw. noch eher auf die Betreuung durch die Mutter angewiesen sind. Es kann also sehr wohl passieren, dass wenn bspw. eine Mutter mit dem Kind an einen entfernteren Ort zieht, eine Obhutsumteilung aufgrund des Alters des Kindes aber ausser Acht fällt, dieser Wegzug ohne negative Konsequenzen für die wegziehende Kindsmutter bleibt. Bei älteren Kindern hingegen, wo Aspekte wie die Schule, der lokale Sportverein und der Freundeskreis von zunehmender Wichtigkeit sind, kann sich eine Obhutsumteilung eher rechtfertigen. Eine Neugestaltung der Obhutsfrage stellt sich insbesondere auch in den (seltenen) Fällen, wo ein Elternteil offensichtlich nur weit weg zieht, um das Kind dem anderen Elternteil zu entfremden. In diesen Fällen wird regelmässig die Erziehungsfähigkeit des wegziehenden Elternteils in Frage gestellt, mit der Folge, dass die Umteilung des Kindes in Erwägung zu ziehen ist. Ansonsten ist der Grund für den Wohnortwechsel gemäss Bundesgericht aber meistens irrelevant. Schliesslich kann sowohl bei einem Umzug innerhalb der Schweiz als bei einem Wegzug ins Ausland die Sprache am neuen Wohnort ein zu berücksichtigender Aspekt sein: Beispielsweise ist es für ein Kind nicht dasselbe, ob es bereits zweisprachig aufgewachsen ist oder ob es neu in einer ihm fremden Sprache beschult würde.

Um unnötige Auseinandersetzungen zu vermeiden sind die Eltern folglich gut beraten, wenn sie vor einem Wohnortwechsel zuerst gemeinsam prüfen, ob die Ausübung der elterlichen Sorge durch beide Elternteile weiterhin gewährleistet werden kann. Es ist zu berücksichtigten, dass grundsätzlich der besuchsrechtsberechtigte Elternteil sämtliche Kosten für die Ausübung seines Besuchsrechts selber zu tragen hat. Wenn nun plötzlich eine viel weitere Distanz zurückgelegt werden muss, um die Kinder bei der obhutsberechtigten Person abzuholen, ist dies oft mit umfangreichen finanziellen Konsequenzen verbunden. Um dieser unzufriedenstellenden Situation entgegenzuwirken, hat die Praxis einige Abweichungen entwickelt, die sich auch vermehrt durchsetzen: Immer öfters wird von der üblichen Hol- und Bringschuld des besuchrechtberechtigten Elternteils abgekommen und eine Umgestaltung hin zu einer Bring-Bring-Situation vorgenommen (bspw. Mutter bringt das Kind am Wochenende zum Vater, der Vater bringt es am Sonntagabend wieder zur Mutter zurück). Und entgegen dem Grundsatz, dass der be- suchsrechtberechtigte Elternteil die Wegkosten für die Ausübung seines Besuchsrecht allein zu tragen hat, kann in knappen finanziellen Verhältnissen auch schon mal eine Berücksichtigung der entsprechenden Kosten in der Bedarfsrechnung vorgenommen werden.

IV. FAZIT

Der unterdessen geltende Grundsatz der gemeinsamen elterlichen Sorge in Kombination mit Art. 301a ZGB führt dazu, dass der obhutsberechtigte Elternteil nicht mehr nach Belieben seinen und damit den Wohnort des Kindes verschieben kann. Stattdessen wird verlangt, dass man bei potentiell erheblichen Auswirkungen auf die Ausübung der elterlichen Sorge und den persönlichen Verkehr durch den anderen Elternteil erst die Zustimmung des betroffenen Elternteils einholt. Die bisher dazu ergangenen Bundesgerichtsurteile machen deutlich, dass es keine universelle Antwort auf die Frage gibt, in welchen Fällen es bei einem Wegzug innerhalb der Schweiz der Zustimmung des Elternteils bedarf: Es bedarf einer Abwägung der massgebenden Kriterien im Einzelfall. Klar jedoch ist, dass das Wohl des Kindes stets im Vordergrund steht.

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29. November 2017 / lic. iur. Stephan Hinz unter Mithilfe von Simona Serratore (MLaw)


STRASSENVERKEHR – ZULÄSSIGKEIT UND VERWERTBARKEIT EINES DROGENSCHNELLTESTS

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt unter Mithilfe von Sabrina Engel (MLaw)

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

In unserem Newsletter vom 21. Dezember 2015 wurde in Anlehnung an den Entscheid des Aargauer Obergerichts vom 20. Oktobers 2015 die Rechtsfolge bei Verweigerung einer Blut- und Urinuntersuchung, die von der Polizei – anstelle der Staatsanwaltschaft – im Anschluss an einen positiven Drogenschnelltest angeordnet wurde, thematisiert (unterdessen bestätigt in BGE 6B_532/2016 vom 15.12.2016). Konkret hat das Obergericht entschieden, dass die Strafbarkeit nach Art. 91a SVG – Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit – aufgrund fehlender Zuständigkeit der Polizei verneint werden muss. Was gilt jedoch im Verweigerungsfall eines von der Polizei angeordneten Drogenschnelltests? Im Gegensatz zur Blut- und Urinprobe muss dieser Test nicht im Spital durchgeführt werden sondern kann direkt vor Ort vorgenommen werden. Schnell und unkompliziert. Muss die anwesende Polizei dennoch auch in diesem Fall zunächst den pikettdiensthabenden Staatsanwalt anrufen, damit dieser anschliessend die Durchführung des Drogentests anordnen kann? Diese Frage wird im Sinne einer Fortsetzung unsers ersten Newsletters nachfolgend beantwortet.

I. VEREITELUNG VON MASSNAHMEN ZUR FESTSTELLUNG DER FAHRUNFÄHIGKEIT (ART. 91A SVG)

Art. 91a SVG bedroht mit Strafe, wer sich als Motorfahrzeugführer vorsätzlich einer Blutprobe, einer Atemalkoholprobe oder einer anderen vom Bundesrat geregelten Voruntersuchung (Art. 10 SKV; Vortest im Urin, Speichel oder Schweiss), die angeordnet wurde oder mit deren Anordnung gerechnet werden musste, oder sich einer zusätzlichen ärztlichen Untersuchung widersetzt oder entzogen hat oder den Zweck dieser Massnahme vereitelt hat. Damit will diese Bestimmung verhindern, dass derjenige Fahrzeuglenker, der flüchtet oder sich anderweitig der Alkoholkontrolle bzw. auch einer Drogenkontrolle entzieht, besser gestellt ist als derjenige, der die Untersuchung der Polizei bzw. des Arztes über sich ergehen lässt (Urteil des Bundesgerichts 6B_229/2012 vom 5. November 2012 E. 2 mit Hinweisen).

Die genannte Strafnorm setzt jedoch zunächst voraus, dass der Täter überhaupt verpflichtet war, sich einer solchen Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit zu unterziehen bzw. bei der Durchführung einer solchen Massnahme mitzuwirken. Denn es ist selbstredend, dass nicht jedermann voraussetzungslos verpflichtet ist, sich jederzeit einer Blut- oder einer Speichelprobe zu unterziehen. Vielmehr bedeuten die entsprechenden Untersuchungsmassnahmen immer auch einen Eingriff in geschützte Grundrechtspositionen.

Eine Mitwirkungs- bzw. Duldungspflicht bei der Durchführung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit besteht nur bei einer gültigen Anordnung durch die zuständige Behörde. Die Zuständigkeit zur Anordnung dieser Untersuchungsmassnahmen ist im Strassenverkehrsgesetz (SVG) wie auch in den dazugehörigen Verordnungen nicht geregelt. Deshalb ist danach zu unterscheiden, ob die entsprechende Untersuchung strafprozessualen oder polizeilichen Charakter hat.

II. DROGENSCHNELLTEST – EINE ZWANGSMASSNAHME

Nach einhelliger Lehrmeinung und Rechtsprechung haben Untersuchungen bzw. Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit, welche nur bei Vorliegen eines konkreten Anfangsverdachts angeordnet werden, den Charakter einer strafprozessualen Zwangsmassnahme im Sinne von Art. 197 StPO.

Gemäss Art. 55 SVG verlangt einzig die Durchführung einer Atemalkoholprobe keinen konkreten Anfangsverdacht. Diese kann unabhängig vom Vorliegen allfälliger Anzeichen von Fahrunfähigkeit durchgeführt werden, womit es sich um eine Kontrolle im Rahmen der sicherheitspolizeilichen Kontrolltätigkeit handelt. Bei Vorliegen einer voraussetzungslosen Routinekontrolle, d.h. einer Atemalkoholkontrolle ohne konkreten Tatverdacht, sind neben den Vorgaben des SVG die Zuständigkeitsvorschriften des kantonalen Polizeirechts einschlägig. Zuständig ist alsdann regelmässig die Polizei. Auch die Atemalkoholprobe wird indes zur strafprozessualen Zwangsmassnahme, wenn ein Anfangsverdacht (bspw. auffälliges Fahrverhalten), gegeben ist.

Alle weiteren Untersuchungsmassnahmen, namentlich die übrigen vom Bundesrat geregelten Voruntersuchungen (Urin-, Speichel- und Schweissuntersuchungen) – d.h. auch Drogenschnelltests –, Blutproben und die zusätzlichen ärztlichen Untersuchungen erfordern bereits von Gesetzes wegen (Art. 55 Abs. 2 und 3 SVG) für deren Durchführbarkeit einen konkreten Anfangsverdacht und sind damit allesamt Zwangsmassnahmen strafprozes-sualer Natur. Konkret handelt es sich bei diesen Massnahmen um körperliche Untersuchungen im Sinne von Art. 251 StPO, bei welchen bei der betroffenen Person körpereigene Flüssigkeiten untersucht werden. Letzteres gilt im Übrigen auch für die Atemalkoholprobe.

III. ZUSTÄNDIGKEIT ZUR ANORDNUNG EINER ZWANGSMASSNAHME

Die Zuständigkeit zur Anordnung von Zwangsmassnahmen ist abschliessend bundesrechtlich geregelt. Gemäss Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO ist die Staatsanwaltschaft zur Anordnung von Zwangsmassnahmen befugt. Die Polizei ist hingegen gemäss lit. c der genannten Norm nur in den gesetzlich vorgesehen Fällen zuständig.

An dieser Stelle gilt es darauf hinzuweisen, dass in einigen Kantonen (etwa BE, FR, SO und SZ) die jeweiligen General- bzw. Oberstaatsanwaltschaften aus Praktikabilitätsüberlegungen Weisungen erlassen haben, die es den Polizeibehörden erlauben sollen, Untersuchungsmassnahmen ohne besondere Anordnung des zuständigen Staatsanwaltes anzuordnen und durchzuführen. Das Bedürfnis für eine solche Schematisierung rechtfertigt aber nicht ein sich Hinwegsetzen – mittels generellen Weisungen – über die vom Gesetzgeber bewusst gewählte und zwingende Zuständigkeitsordnung (Urteil des Obergerichts Aargau vom 20. Oktober 2015). Bei diesen Weisungen handelt es sich – aufgrund des fehlenden Gesetzescharakters – auch nicht um einen Ausnahmefall im Sinne von Art. 198 Abs. 1 lit. c StPO.

Eine andere Frage ist indes, ob die Polizei einen Fahrzeuglenker dazu auffordern kann, freiwillig an einer Untersuchungsmassnahme mitzuwirken und eine individuell konkrete Anordnung der Staatsanwaltschaft erst für den Fall vorgesehen wird, wenn sich ein Betroffener weigert. Das Obergericht Aargau hat diese Frage in seinem Entscheid vom 20. Oktober 2015 in Bezug auf die Zulässigkeit einer freiwillig abgegebenen Blut- und Urinprobe offen gelassen. Es hielt jedoch in seiner Urteilsbegründung explizit fest, dass die Verweigerung einer freiwilligen – d.h. nicht hoheitlich angeordneten – Abgabe von Blut und Urin nicht strafbar im Sinne von Art. 91a SVG ist.

Der Drogenschnelltest wird, wie vorangehend gezeigt, im Zusammenhang mit der Zuständigkeitsregelung vom Gesetzgeber gleich behandelt wie alle anderen Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit – mit Ausnahme des Alkoholatemtests. Es wird diesbezüglich auch keine Unterscheidung getroffen, ob es sich lediglich um einen Vortest handelt oder um eine anschliessende weitergehende Massnahme in Form einer Urin- oder Blutprobe. In jedem Fall handelt es sich um Zwangsmassnahmen, die nach Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO von der Staatsanwaltschaft anzuordnen sind.

IV. FAZIT

Beim Drogenschnelltest handelt es sich um eine strafprozessuale Zwangsmassnahme im Sinne von Art. 251 StPO, die gemäss Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO zwingend von der Staatsanwaltschaft anzuordnen ist. Dasselbe gilt für die Atemalkoholprobe, sofern diese aufgrund von Anzeichen der Fahrunfähigkeit vorgenommen wird. Liegt demnach nur eine Aufforderung der Polizei zur Mitwirkung vor – die auf reiner Freiwilligkeit beruht – und fehlt es an einer entsprechenden Anordnung durch die Staatsanwaltschaft, besteht für die betroffene Person keine Mitwirkungs- oder Duldungspflicht. Ohne das Bestehen einer solchen Pflicht fehlt es offensichtlich an einer Vor- aussetzung für die Erfüllung des Tatbestands von Art. 91a SVG. Ins Visier geratene Verkehrsteilnehmer haben das Recht den von der Polizei angeordneten Drogenschnelltest bzw. Atemalkoholtest aufgrund eines Anfangsverdachts zu verweigern. Nur wenn die Massnahme durch den Staatsanwalt angeordnet wird – was im Normalfall per Telefon erfolgt –, sind Betroffene gehalten, den Test durchzuführen. Davon zu unterscheiden ist allerdings die Atemalkoholkontrolle im Rahmen zulässiger Routinekontrollen, bei welchen die Polizei ohne jeglichen Anfangsverdacht auf Fahrunfähigkeit generelle Alkoholkontrollen durchführt. In diesem Fall ist die Verweigerung des Alkoholtests im Sinne von Art. 91a SVG strafbar.

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11. August 2017 / lic. iur. Stephan Hinz unter Mithilfe von Sabrina Engel (MLaw) 


FRISTBEGINN FÜR KÜNDIGUNGSANFECHTUNG IM MIETVERHÄLTNIS WÄHREND FERIENABWESENHEIT

lic. iur. Stephan Hinz unter Mithilfe von Sabrina Engel (MLaw)

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Wird dem Mieter einer Wohnung eine Kündigung mittels eingeschriebenem Brief zugestellt und will dieser die Kündigung anfechten, muss er das Schlichtungsgesuch innert einer Frist von dreissig Tagen bei der zuständigen Schlichtungsbehörde für Mietsachen einreichen. Die Anfechtungsfrist beginnt – im Sinne der absoluten Empfangstheorie – direkt mit der erfolgten Zustellung an den Mieter. Diese Rechtsprechung bestätigt das Bundesgericht in einem neueren Entscheid und setzt sich gleichzeitig mit der Frage auseinander, ob die Frist zur Anfechtung einer Kündigung auch nach dieser Regel zu laufen beginnt, wenn sich der Mieter beim Zustellungsversuch in den Ferien befindet.

I. GELTENDE RECHTSLAGE BEI KÜNDIGUNG DURCH DEN VERMIETER

Die Fristberechnung bei vertraglichen Rechtshandlungen richtet sich nach Art. 77 OR, wonach der Tag, auf den das fristauslösende Ereignis fällt, bei den nach Tagen berechneten Fristen grundsätzlich nicht mitgerechnet wird (Abs. 1). Bei Willenserklärungen wie z.B. Kündigungen oder Mahnungen gilt hingegen, sofern die Parteien für die Willenserklärung untereinander nicht anderes vereinbart haben, für den Beginn und Wahrung von Fristen die Empfangstheorie. Danach ist für die Bestimmung des Fristbeginns massgebend, wann die Willenserklärung in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist.

So hat das Bundesgericht im Jahr 2014 im Urteil 140 III 244 entschieden, dass die 30-tägige Frist zur Anfechtung einer Kündigung gemäss Art. 273 Abs. 1 OR an dem Tag zu laufen beginnt, an dem die Willenserklärung in den Machtbereich des Empfängers oder seines Vertreters gelangt, so dass dieser bei normaler Organisation seines Geschäftsverkehrs grundsätzlich in der Lage ist, von der Willenserklärung Kenntnis zu erlangen.

Dies bedeutet, dass die Anfechtungsfrist einer eingeschrieben verschickten Kündigung am Tag der physischen Aushändigung durch den Postboten an den Mieter oder dessen Vertreter zu laufen beginnt. Falls aufgrund der Abwesenheit des Mieters hingegen vom Postboten eine Abholungseinladung in den Briefkasten gelegt werden muss, beginnt die Frist dann zu laufen, sobald der Mieter gemäss der Abholungseinladung bei der zugehörigen Poststelle vom Kündigungsschreiben Kenntnis nehmen kann. Das Bundesgericht trifft dabei die Annahme, dass die Kenntnisnahme noch am (gleichen!) Tag, an dem die Abholungseinladung in den Briefkasten gelegt wird, möglich ist, sofern dies vom Empfänger erwartet werden kann. Andernfalls gilt die eingeschriebene Sendung gemäss dem Bundesgericht am darauffolgenden Tag als zugestellt, womit die Frist erst an diesem Tag zu laufen beginnt (vgl. BGE 137 III 208).

Dieses von der Rechtsprechung entwickelte Prinzip wird als absolute bzw. uneingeschränkte Empfangstheorie bezeichnet. In unserem Newsletter vom 17. März 2014 wurde diese bundesgerichtliche Praxis bereits thematisiert und dabei auf die geschaffene Rechtsunsicherheit bezüglich des effektiven Fristbeginns aufmerksam gemacht. Insbesondere ist nicht eindeutig geregelt, in welchen Fällen die Frist bei Erhalt einer Abholeinladung nicht am gleichen Tag, sondern erst am darauffolgenden, zu laufen beginnt. Aus diesem Grund ist dem Mieter dringend anzuraten, den Tag der Zustellung der Abholeinladung bei der 30-tägigen Anfechtungsfrist mitzuzählen (vgl. Newsletter Fristberechnung im Mietrecht bei Anfechtung der Kündigung und/oder Einreichung eines Erstreckungsbegehrens vom 17. März 2014).

Im Entscheid 4A_293/2016 vom 13. Dezember 2016 bestätigt und konkretisiert das Bundesgericht die Geltung der absoluten Empfangstheorie im Zusammenhang mit der Kündigung eines Mietverhältnisses. Namentlich wird festgehalten, dass die Frist für die Anfechtung einer Kündigung auch dann nach der Regel der absoluten Empfangstheorie zu laufen beginnt, wenn sich der Mieter beim Zustellversuch in den Ferien befindet.

II. GELTENDE RECHTSLAGE BEI MIETZINSERHÖHUNGEN UND ABMAHNUNGEN WEGEN ZAHLUNGSVERZUGS

An dieser Stelle wird darauf hingewiesen, dass es sich beim Erhalt einer Mietzinserhöhung (mittels amtlichen Formulars) oder einer Abmahnung von offenen Mietzinsen grösstenteils differenziert verhält: In diesem Fall beginnt die 30-tägige Frist für eine entsprechende Anfechtung oder Kündigung wegen Zahlungsverzug zwar auch ab dem Tag der Zustellung des Einschreibens des Vermieters beim Mieter zu laufen.

Kann das Schreiben hingegen nicht direkt an den Mieter oder den Stellvertreter ausgehändigt werden, beginnt die Frist ab dem Tag der Abholung des Schreibens bei der Post oder bei Erhalt einer Abholeinladung der Post nach Ablauf der 7-tägigen Frist, zu laufen. Der Fristbeginn richtet sich dementsprechend nach der relativen Empfangstheorie (für nähere Ausführungen zu der relativen Empfangstheorie wird ebenfalls auf den oben genannten Newsletter verwiesen).

III. SACHVERHALT DES BUNDESGERICHTSENTSCHEIDES 4A_293/2016 VOM 13. DEZEMBER 2016

Dem Bundesgerichtsentscheid lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Vermieter kündigte das Mietverhältnis am 29. November 2013 mit entsprechendem amtlichem Formular. Infolge Ferienabwesenheit waren die Mieter nicht in der Lage, die eingeschriebene Kündigung entgegenzunehmen, weshalb der Postbote am 2. Dezember 2013 eine Abholeinladung in deren Briefkasten legte. Die Mieter kehrten jedoch erst am letzten Tag der Abholfrist und nach Schliessung des Postschalters von den Ferien zurück. Es war ihnen folglich nicht mehr möglich, die eingeschriebene Sendung abzuholen, da nach Ablauf der Abholfrist nicht abgeholte Schreiben jeweils an den Absender retourniert werden. Im vorliegenden Fall wurde den Mietern dann allerdings zum Verhängnis, dass sie sich anschliessend nicht über den Absender des inzwischen retournierten Schreibens erkundigt hatten. Über die am 29. November 2013 erfolgte Kündigung wurden sie von ihrem Vermieter erst am 23. Januar 2014 mit einfachem Schreiben und einer Kopie der Kündigungserklärung informiert, wozu der Vermieter nicht verpflichtet gewesen wäre. Der Vermieter teilte ihnen mit beiliegendem Schreiben mit, dass die Kündigung am letzten Tag der Abholeinladung als zugestellt gelte und dementsprechend ihre volle Wirksamkeit entfalten würde. Die Mieter reichten in der Folge am 7. Februar 2014 das Begehren um Anfechtung der Kündigung ein.

Entgegen der Ansicht der Vorinstanz und zuungunsten der Mieter entschied das Bundesgericht, dass sich die Empfänger einer Abholeinladung in einem solchen Fall bei der Post oder auf der Website der Post über den Absender hätten informieren müssen. Für unerheblich erachtete das Bundesgericht einerseits die Tatsache, dass die Abholfrist bereits abgelaufen war. Andererseits spielte es keine Rolle, dass die Mieter nicht mit einem eingeschriebenen Brief rechnen mussten und dementsprechend auch keine Vorkehrungen für den rechtzeitigen Empfang trafen. Es bestand gemäss Bundesgericht keine Obliegenheit des Absenders, die Empfänger rechtzeitig mit einfacher Post über die Kündigung zu orientieren.

IV. FAZIT

Das in diesem Artikel behandelte Bundesgerichtsurteil lässt einige Fragen offen, die sich erst mit der Weiterentwicklung der Rechtsprechung klären werden. Insbesondere ist unklar, inwiefern diese Regelung unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchsverbots ihre Grenzen findet. So stellt sich namentlich die Frage, ob sich der Vermieter rechtmissbräuchlich verhält, wenn dieser im Wissen um die Abwesenheit und damit um die fehlende Möglichkeit der Kenntnisnahme durch die Mieter mit einer zweiten Zustellung der Kündigungserklärung zuwartet oder gar ganz auf diese verzichtet. Unklar ist auch, wie es sich verhält, wenn der Mieter gar nicht in der Lage ist, die Abholung von eingeschriebenen Sendungen während seiner Abwesenheit zu organisieren (z.B. wegen Krankheit oder unfallbedingtem Spitalaufenthalt). Zu solchen möglichen Spezialfällen schweigt der Bundesgerichtsentscheid.

Nichtsdestotrotz gilt es für Mieter zu beachten, dass diese sich entsprechend organisieren müssen, sofern sie mehr als sechs Tage abwesend sind; sei es durch einen Auftrag zum Rückbehalt von Sendungen bei der Poststelle – die im Übrigen auch auf Anfrage hin jederzeit Auskunft über den Absender einer zurückgegangenen Sendung erteilt – oder durch eine Stellvertretungslösung. So sind die Mieter auch bei einer längeren Ferienabwesenheit in der Lage, Kenntnis von einer eingeschriebenen Sendung zu erlangen und noch innerhalb der 30-tägigen Frist entsprechend zu reagieren. Denn am Ende tragen sie das Risiko bzw. die Konsequenzen einer verpassten Frist.

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26. April 2017 / lic. iur. Stephan Hinz unter Mithilfe von Sabrina Engel (MLaw)


RECHTSÜBERHOLEN AUF AUTOBAHNEN BEI KOLONNENVERKEHR – PRÄZISIERUNG DER BUNDESGERICHTLICHEN RECHTSPRECHUNG

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt, und MLaw Sabrina Engel

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid (BGE 142 IV 93) vom 3. März 2016 einen Fahrzeuglenker, der bei dichtem Kolonnenverkehr auf der dreispurigen Autobahn A1-Ost von der mittleren Fahrspur (erste Überholspur) auf die rechte Spur (Normalspur) wechselte und im gleichbleibenden Tempo rechts an zwei Fahrzeugen vorbeifuhr, vom Anklagepunkt der Verkehrsregelverletzung freigesprochen. In diesem Entscheid hält das Bundesgericht zwar an seiner als zu streng kritisierten Rechtsprechung zum Verbot des Rechtsüberholens fest, es nimmt aber eine Präzisierung des Begriffs des Kolonnenverkehrs vor, indem es neu bei der Gefahrenbewertung auf das Gesamtverkehrsaufkommen abstellt.

I. DAS VERBOT DES RECHTSÜBERHOLENS 

Wer auf der Autobahn rechts überholt, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung und kann mit einer hohen Geldstrafe oder gar einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft werden. Für die meisten Autofahrer dürfte jedoch der durch das Strassenverkehrsamt zusätzlich angeordnete Führerausweisentzug das grössere Übel sein, zumal die Mindestentzugsdauer bei einer groben Verkehrsregelverletzung drei Monate beträgt. 

Unter den Begriff des Rechtsüberholens fällt nicht nur der klassische Fall, wenn ein Fahrzeuglenker von der Überholspur auf die Normalspur ausschert, an einem Auto auf der rechten Seite vorbeifährt und danach wieder auf die Überholspur wechselt. Rechtsüberholen im Sinne der ständigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung liegt bereits dann vor, wenn ein schnelleres Fahrzeug auf der Normalspur ein mit geringerer Geschwindigkeit in gleicher Richtung vorausfahrendes Fahrzeug auf der Überholspur einholt, an diesem vorbeifährt und vor ihm die Fahrt weiterhin auf der Normalspur fortsetzt. Es wird also weder das Ausschwenken noch das Wiedereinbiegen auf die Überholspur für den Tatbestand des Rechtsüberholens vorausgesetzt.

II. AUSNAHME VOM VERBOT DES RECHTSÜBERHOLENS 

Das Gesetz sieht jedoch Ausnahmen vom Verbot des Rechtsüberholens vor, d.h. in diesen Verkehrssituationen darf der Fahrzeuglenker rechts an den anderen Fahrzeugen vorbeifahren: 

– Beim Fahren auf Einspurstrecken, sofern für die jeweiligen Fahrspuren unterschiedliche Fahrziele signalisiert sind
– Beim Fahren auf den Beschleunigungsstreifen von Einfahrten bis zum Ende der Doppellinien-Markierung 
– Beim Fahren auf dem Verzögerungsstreifen von Ausfahrten 
– Beim Fahren in parallelen Kolonnen
Das Bundesgericht hat sich im Entscheid (BGE 142 IV 93) vom 3. März 2016 mit letzterer Ausnahme vom Rechtsüberholen, Fahren in parallelen Kolonnen, wegweisend auseinandergesetzt. Es hält zwar auch in diesem Entscheid nach wie vor an seiner Rechtsprechung zur Unterscheidung zwischen dem grundsätzlichen Verbot, rechts zu überholen durch Ausschwenken und/oder Wiedereinbiegen und dem erlaubten Rechtsvorfahren, fest, es präzisiert aber den Begriff des Kolonnenverkehrs auf Autobahnen. 

1. Begriff des Kolonnenverkehrs nach jüngster Rechtsprechung

Der Begriff des Kolonnenverkehrs wurde dahingehend konkretisiert, dass paralleler Kolonnenverkehr bereits dann anzunehmen ist, wenn es auf der linken (und allenfalls mittleren) Überholspur zu einer derartigen Verkehrsverdichtung kommt, dass Fahrzeuge auf der Überholspur faktisch nicht mehr schneller vorankommen als diejenigen auf der Normalspur, mithin die gefahrenen Geschwindigkeiten annähernd gleich sind. 

Bei der Beurteilung, ob ein paralleler Kolonnenverkehr vorherrscht, ist es irrelevant, ob bzw. dass die Abstände zwischen den Fahrzeugen auf der Normalspur grösser sind als zwischen denen auf der linken (und allenfalls mittleren) Überholspur. Dasselbe gilt bei verkehrsbedingten geringfügigen Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen den Fahrzeugen auf der Normalspur und denjenigen auf der Überholspur. 

Das Bundesgericht führt in seiner Begründung aus, dass das passive Rechtsvorbeifahren bei dichtem Verkehr mittlerweile eine alltägliche Situation sei, die sich kaum vermeiden liesse und nicht per se zu einer abstrakt erhöhten Gefahrensituation führe. Im Gegensatz zum eigentlichen verbotenen Rechtsüberholen tauche bei einem vorherrschenden Kolonnenverkehr das rechts auf der Normalspur fahrende Auto nicht plötzlich und unvermittelt auf, sondern bewege sich mit konstanter Geschwindigkeit fort. Es bestünde damit keine Gefährdungs- oder Unfallgefahr. Fahrzeuglenker auf der Überholspur können bei erhöhtem Verkehrsaufkommen und Reduzierung der eigenen Geschwindigkeit nicht darauf vertrauen, dass sich die neben ihnen auf der Normalspur fahrenden Autos dem Verkehrsaufkommen auf der Überholspur anpassen und ihrerseits die Geschwindigkeit reduzieren, um einen blinden Spurenwechsel zu ermöglichen. 

III. FAZIT 

Wer auf der Autobahn auf der Normalspur bei dichtem Kolonnenverkehr auf beiden (allen) Spuren mit einer konstanten Geschwindigkeit an den Fahrzeugen auf der Überholspur rechts vorbeifährt (ohne Ausschwenken und Wiedereinbiegen), begeht keine grobe Verkehrsverletzung und bleibt damit straflos. Fahrzeuglenker auf der Überholspur werden bei einer solchen Verkehrslage also nicht (mehr) in ihrem Vertrauen geschützt, dass sich auf der Normalspur hinter ihnen kein Fahrzeug befindet oder nähert. Hingegen gilt das eigentliche Rechtsüberholen auf der Autobahn nach wie vor als grobe Verkehrsregelverletzung und wird auch entsprechend gebüsst, namentlich der vorsätzliche Wechsel von der Überholspur auf die Normalspur mit dem Zweck des Überholens.

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29. November 2016 / lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt, und MLaw Sabrina Engel


ANFECHTUNG DES ANFANGSMIETZINSES

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt, und MLaw Matthias Meier

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Unter gewissen Voraussetzungen kann ein Mieter während eines laufenden Mietverhältnisses die Herabsetzung des Mietzinses verlangen (z.B. bei einer Reduktion des Referenzzinssatzes) oder eine ungerechtfertigte Mietzinserhöhung des Vermieters anfechten. Darüber hinaus kann unter Umständen bereits der Anfangsmietzins angefochten werden, soweit dieser missbräuchlich ist. Kürzlich hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung diesbezüglich in einem wegweisenden Entscheid präzisiert und die Position der Mieter gestärkt.

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I. GRUNDLAGEN

Wer einen Vertrag abschliesst, muss ihn einhalten – das gilt auch im Mietrecht. So sind die Parteien im Mietverhältnis grundsätzlich an den ausgehandelten Mietzins gebunden. In der Praxis ist die Anfechtung des Anfangsmietzinses denn auch eher selten anzutreffen. Selbst bei einer überhöhten Miete sehen viele Mieter von einer Anfechtung des Mietzinses ab, weil sie Konsequenzen seitens des Vermieters befürchten, beispielsweise eine Kündigung. Das Gesetz begegnet dieser Gefahr damit, dass der Mieter, der den Mietzins anficht, sowohl während des Verfahrens als auch in den drei folgenden Jahren gegen eine Kündigung geschützt ist, sofern das Verfahren durch Vergleich zum Abschluss gekommen ist oder der Mieter zumindest teilweise obsiegt hat. Auf der anderen Seite gilt: Wer eine rechtzeitige Anfechtung des Anfangsmietzinses unterlässt – innert 30 Tagen nach Übernahme der Mietsache –, hat den Mietzins grundsätzlich akzeptiert. Er kann sich auch nicht später darauf berufen, dass beispielsweise ein anderer Mieter der gleichen Liegenschaft einen günstigeren Mietzins erstritten hat.

Die Anfechtung des Anfangsmietzinses ist grundsätzlich bei allen Wohn- und Geschäftsräumen möglich. Von vorneherein ausgeschlossenist sie jedoch bei luxuriösen Wohnungen und Einfamilienhäusern mit mindestens sechs oder mehr Wohnräumen (Art. 253b Abs. 2 OR), bei Ferienwohnungen, die für höchstens drei Monate gemietet werden (Art. 253a Abs. 2 OR), oder bei von der öffentlichen Hand geförderten Wohnungen, deren Mietzinse durch eine Behörde kontrolliert werden (Art. 253b Abs. 3 OR).

Für eine erfolgreiche Anfechtung muss der Mietzins einerseits missbräuchlich sein (nachfolgend II.) und andererseits alternativ eine persönliche Notlage, eine Zwangslage aufgrund der örtlichen Marktverhältnisse oder eine erhebliche Erhöhung des Mietzinses gegenüber dem früheren Mietzins vorliegen (nachfolgend III.).

II. MISSBRÄUCHLICHKEIT DES MIETZINSES

Ein Mietzins ist missbräuchlich, wenn damit ein übersetzter Ertrag aus der Mietsache erzielt wird oder wenn er auf einem offensichtlich übersetzten Kaufpreis beruht (Art. 269 OR). In der Praxis werden verschiedene Kriterien

und Methoden angewandt, um die zulässige Höhe des Mietzinses zu ermitteln. Mit den absoluten Anpassungskriterien wird der Mietzins losgelöst vom bislang gültigen Mietzins bestimmt. Absolute Kriterien sind die Rendite (Nettorendite gemäss Art. 269 OR oder Bruttorendite gemäss Art. 269a lit. c OR) und die orts- und quartierübliche Vergleichsmiete (Art. 269a lit. a OR). Mit den relativen Anpassungskriterien wird von der letzten Mietzinsfestsetzung ausgegangen und untersucht, wie sich die massgeblichen Faktoren seither verändert haben. Die wichtigsten relativen Kriterien sind wertvermehrende Investitionen sowie die Anpassung an Kostenveränderungen (veränderte Hypothekarzinsen, Unterhalts- und Betriebskosten, Gebühren und Abgaben) und der Teuerungsausgleich auf dem investierten Eigenkapital.

Die Berechnung des „gerechten“ Mietzinses hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab und gestaltet sich für Laien zumeist schwierig, nicht zuletzt weil das Gesetz die Kriterien und Voraussetzungen nur rudimentär regelt.

Art. 269a OR listet immerhin auf, wann ein Mietzins in der Regel als nicht missbräuchlich eingestuft wird, so namentlich bei einer Anpassung an Orts- und Quartierüblichkeiten, bei Kostensteigerungen für Unterhalt und Verwaltung der Mietsache, bei Hypothekarzinserhöhungen oder bei einer Anpassung an die Teuerung.

III. NOT-/ZWANGSLAGE BZW. ERHEBLICHE ERHÖHUNG DES MIETZINSES

Gemäss Art. 270 Abs. 1 OR kann der Mieter einen missbräuchlichen Anfangsmietzins anfechten,

– wenn er sich wegen einer persönlichen oder familiären Notlage zum Vertragsabschluss gezwungen sah,

– wenn er wegen der Verhältnisse auf dem örtlichen Markt für Wohn- und Geschäftsräume zum Vertragsabschluss gezwungen sah oder

– wenn der Mietzins gegenüber dem früheren Mietzins für dieselbe Mietsache erheblich erhöht worden ist.

Eine persönliche oder familiäre Notlage kann unterschiedlich begründet sein: Scheidung oder Trennung, Geburteines Kindes, Umzug wegen des Arbeits- oder Studienplatzes, Kündigung des bisherigen Mietverhältnisses, lange und fruchtlose Suche nach einer Wohnung etc. Liegt eine solche Notlage vor, kann vom Mieter nicht erwartet werden, dass er auf eine sich ihm bietende Gelegenheit zur Übernahme einer Mietsache verzichtet. EineZwangslage wegen der Verhältnisse auf dem örtlichen Markt für Wohnungen oder Geschäftsräumetritt auf, wenn ein Mangel an verfügbaren Wohn- und Geschäftsräumen vorliegt. Der Mieter hat in solchen Fällen nicht nachzuweisen, dass sich die Knappheit an leer stehenden Wohn- oder Geschäftsräumlichkeiten konkret auf seine Bemühungen ausgewirkt hat. Von einer relevanten Einschränkung der Wahlmöglichkeiten ist bei einer Leerstandsziffer von weniger als 1,5% auszugehen. In Baden liegt der Anteil an leer stehenden Wohnungenunter 1% (Stand 2015, Quelle Bundesamt für Statistik).

Als erhebliche Erhöhung des Mietzinses gegenüber dem früheren Mietzins wird in der Regel ein Aufschlag von 10% und mehr betrachtet. Die Rechnungsgrundlagen des bisherigen und neuen Mietzinses spielen keine Rolle. Als Mietzins gilt der gesamte geschuldete Betrag für die Mietsache (Nettomietzins plus Nebenkosten).

Das Bundesgericht hat mit seinem kürzlich ergangenen Entscheid (BGer vom 18. Mai 2016, 4A_691/2015) bestätigt, dass nur eine dieser drei Voraussetzungen erfüllt sein muss. Die Vorinstanz – das Zürcher Obergericht – hatte noch ausgeführt, dass es für die Anfechtung des Anfangsmietzinses nicht genüge, dass eine Wohnungsnot vorliege. Vielmehr müsse ein Mieter zusätzlich eine persönliche Notlage beweisen und insbesondere belegen können, dass ihm eine vernünftige Alternative gefehlt habe. Das Bundesgericht führte dagegen aus, dass aufgrund der gesetzlichen Bestimmung klar sei, dass die Anfechtungsgründe alternativ zur Verfügung stünden. Ausserdem gehe es darum, dass dem Mieter bei der Aushandlung des Mietzinses keine vergleichbare Macht zukomme, weil er auf eine Wohnung angewiesen sei. So diene die Anfechtung aufgrund der Verhältnisse auf dem örtlichen Markt denn auch dazu, den Missbrauch eines Marktungleichgewichts zu verhindern.

IV. FAZIT

Im Mietverhältnis sind die Parteien grundsätzlich an den ausgehandelten Mietzins gebunden. Das Gesetz sieht unter bestimmten Voraussetzungen jedoch die Möglichkeit vor, bereits gegen einen übersetzten Anfangsmietzins vorzugehen. Der Mieter muss sich hierfür innert 30 Tagen nach Übernahme der Mietsache an die zuständige Schlichtungsbehörde wenden und darlegen, dass der Mietzins missbräuchlich ist. Zusätzlich muss eine persönliche Notlage oder eine Zwangslage aufgrund der örtlichen Marktverhältnisse (wie z.B. eine Wohnungsnot) vorliegen oder der Mietzins gegenüber dem früheren Mietzins erheblich erhöht worden sein.

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1. Juli 2016 / lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt, und MLaw Matthias Meier


DATENSCHUTZRECHTLICHE GRENZEN DER VIDEOÜBERWACHUNG BEI MIETLIEGENSCHAFTEN

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt und MLaw Antonia Mästinger

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Das Bundesgericht hatte sich in einem kürzlich erschienenen Urteil mit der Frage der Rechtmässigkeit einer Videoüberwachungsanlage in einem Mehrfamilienhaus zu befassen. Beim Mehrfamilienhaus handelte es sich um ein dreiteiliges Gebäude mit insgesamt 24 Wohnungen, wobei jeder der drei Gebäudeteile über einen eigenen Eingang verfügte. Alle drei Teile waren durch einen internen Durchgang miteinander verbunden, welcher den Zugang zur gemeinsamen Autoeinstellhalle und zur Waschküche ermöglichte. In diesem Gebäude wurde durch die Vermieterschaft im Aussen- und Innenbereich des Wohngebäudes sowie in der Autoeinstellhalle eine Videoüberwachungsanlage mit insgesamt zwölf Kameras installiert. In der Folge wurden die Vermieter seitens eines Mieters dazu aufgefordert, die Überwachungskameras zu entfernen. Im Urteil 4A_576/2015 setzte sich das Bundesgericht daraufhin mit den datenschutzrechtlichen Grenzen der Videoüberwachung bei Mietliegenschaften auseinander.

I. RECHTLICHE GRUNDLAGEN

Das Bundesgericht hielt fest, dass das Mietrecht gemäss Art. 253 ff. OR keine besonderen Bestimmungen bezüglich der Bearbeitung von Personendaten des Mieters durch den Vermieter enthält, was bedeutet, dass auch im Rahmen eines Mietverhältnisses die Bestimmungen des Datenschutzgesetzes Anwendung finden. Dieses ergänzt und konkretisiert den bereits durch das Zivilgesetzbuch (Art. 28 ff. ZGB) gewährleisteten Persönlichkeitsschutz.

Art. 15 Abs. 1 DSG bestimmt, dass gegen widerrechtliche Verletzungen der Persönlichkeit die Klage nach Art. 28 f. ZGB offensteht. Gemäss Art. 28a Abs. 1 ZGB kann die klagende Partei dem Gericht beantragen, eine drohende Verletzung zu verbieten, eine bestehende Verletzung zu beseitigen oder die Widerrechtlichkeit einer Verletzung festzustellen, wenn sich diese weiterhin störend auswirkt. Die Beweislast für die Persönlichkeitsverletzung trägt die klagende Partei, während die beklagte Partei als Urheberin der Verletzung diejenigen Tatsachen zu beweisen hat, welche einen Rechtfertigungsgrund darstellen.

Weiter hielt das Bundesgericht fest, dass die Aufzeichnung von Bildern durch eine Videoüberwachungsanlage, welche es erlaubt, bestimmte Personen zu identifizieren, unbestreitbar in den Anwendungsbereich des Datenschutzgesetzes falle, welches in Art. 3 lit. e DSG festlegt, dass unter dem Bearbeiten von Personendaten jeder Umgang mit Personendaten zu verstehen ist, unabhängig von den angewandten Mitteln und Verfahren, insbesondere das Beschaffen, Aufbewahren, Verwenden, Umarbeiten, Bekanntgeben, Archivieren oder Vernichten von Daten. Unter Personendaten sind gem. Art. 3 lit. a DSG alle Angaben, welche sich auf eine bestimmte oder bestimmbare Person beziehen, zu verstehen. Darunter fallen auch Bilder, ohne dass die Beschaffenheit des Datenträgers relevant ist. Entscheidend ist bloss, dass sich die Angaben einer Person zuordnen lassen.

Da somit die Aufzeichnung von Bildern durch eine Videoüberwachungsanlage unter das Datenschutzgesetz fällt, hat der Vermieter, welcher eine Videoüberwachungsanlage in einem Mietshaus betreiben möchte, insbesondere die allgemeinem Bearbeitungsgrundsätze gemäss Art. 4 DSG sowie die Vorgaben zur Bearbeitung von Personendaten durch Privatpersonen gemäss Art. 12 ff. DSG zu beachten. Art. 12 Abs. 1 DSG bestimmt, dass wer Personendaten bearbeitet, die Persönlichkeit der betroffenen Person nicht widerrechtlich verletzen darf. In Art. 13 Abs. 1 DSG sind die Rechtfertigungsgründe geregelt, welche vorsehen, dass eine Verletzung der Persönlichkeit widerrechtlich ist, wenn sie nicht durch Einwilligung des Verletzten, durch überwiegendes privates oder öffentliches Interesse oder durch Gesetz gerechtfertigt ist. Grundsätzlich kann jedes Interesse von allgemein anerkanntem Wert berücksichtigt werden.

II. ABWÄGUNG DER MIETER- UND VERMIETERINTERESSEN

Anlässlich eines Augenscheins der Liegenschaft inkl. Vorplatz und Autoeinstellhalle stellte die Vorinstanz fest, dass die Videoüberwachungskameras geeignet seien, Straftaten zu verhindern. Die Kameras seien mit gut sichtbaren Hinweisschildern versehen und an zentralen Stellen auf dem Vorplatz zu den drei Hauseingängen der Liegenschaft, in den drei Hauseingangsbereichen, in den Durchgängen zwischen den Liegenschaftsteilen sowie bei den Zugängen zur Waschküche, in der Autoeinstellhalle sowie über dem Eingang zur Autoeinstellhalle montiert.

Um die Liegenschaften oder die Autoeinstellhalle zu betreten, müssten diese Kamerastandorte passiert werden. Eine gleich geeignete, mildere Massnahme für den angestrebten Erfolg sei nicht ersichtlich, da eine Verbesserung der Beleuchtung nicht gleich wirkungsvoll sei. Weiter wurde festgestellt, dass die Aufnahmen auf 24 Stunden beschränkt seien und anschliessend überspielt würden, so dass die Massnahme auch unter diesem Blickwinkel massvoll erscheine.

Das Bundesgericht hielt fest, dass ein allgemeines Interesse der Eigentümer und der einer Überwachungsmassnahme zustimmenden Mieter an der Verhinderung von Vandalenakten und Einbrüchen nicht ohne Weiteres jede Videoüberwachung im Innern eines Wohnhauses rechtfertige. Genau so wenig geht jedoch der Schutz der Privatsphäre (Art. 13 BV), der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie (Art. 26 BV) oder der Schutz auf körperliche Unversehrtheit (Art. 10 Abs. 2 BV) in der Weise vor, dass eine Videoüberwachung in Räumen, welche für alle Bewohner zugänglich sind, ohne die Zustimmung sämtlicher Betroffener stets als unzulässig zu erachten wäre. Stets ist also eine konkrete Interessenabwägung unter Einbezug sämtlicher Umstände vorzunehmen. Handelt es sich um einen anonymen Wohnblock, in welchem eventuell sogar ein Risiko von Übergriffen besteht, kann eine Videoüberwachung im Eingangsbereich durchaus angemessen und für sämtliche Betroffenen zumutbar sein, wogegen dies in einem kleinen Mehrfamilienhaus, in welchem sich alle Nachbarn kennen, eher nicht der Fall sein dürfte.

Im vorliegenden Fall lag ein erhebliches Interesse der Vermieterschaft an der Verhinderung von Einbrüchen und Vandalenakten vor. Auch begrüssten die Mieter das eingerichtete Videoüberwachungssystem mehrheitlich. Das Bundesgericht stimmte jedoch der Vorinstanz zu und entschied, dass eine dauerhafte Überwachung im Eingangsbereich des Mehrfamilienhauses einen erheblichen Eingriff in die Privatsphäre darstelle, da diese eine systematische Erhebung des Verhaltens des Mieters ermögliche, da dieser diese Bereiche für den Zugang zu seiner Wohnung regelmässig passieren müsse. So würden die Tageszeiten erfasst, zu denen er die Liegenschaft betrete oder verlasse sowie Personen, die ihn allenfalls begleiten würden. Angesichts nur weniger Mietparteien und somit überschaubarer Verhältnisse sowie fehlender Hinweise auf eine konkrete Gefährdung stelle die Überwachung des Eingangsbereichs und der internen Durchgänge zur Waschküche eine übermässige Beeinträchtigung der Privatsphäre dar, welche durch die Ziele der Überwachung, wie Prävention und Aufklärung von Vandalismus und Einbrüchen, nicht ausreichend gerechtfertigt sei. Dies weil das, was sich im Innern der Mietliegenschaft zutrage, zumindest in den Bereichen der Durchgänge der Privatsphäre unterliege. Mit den in Frage stehenden Kameras wäre es möglich, Lebenssituationen des Mieters festzuhalten, welche dem Einblick der Vermieterschaft entzogen bleiben müssten. Die Videoüberwachung innerhalb des Mietobjekts führe zu einer übermässigen Beeinträchtigung des Beschwerdegegners in der unbeobachteten Nutzung, insbesondere des Waschküchenvorraums, und lasse sich mit den Zielen der Videoüberwachung, der Prävention und Aufklärung von Einbrüchen und Vandalismus, nicht ausreichend rechtfertigen. Ausserdem werde das Interesse der Vermieterschaft und der einverstandenen Mieter an einer wirksamen Verhinderung und Aufklärung von Straftaten auch ohne die als unzulässig erklärten Videobilder mit den übrigen Kameras, unter anderem den Aussenkameras auf dem Vorplatz zu den drei Hauseingängen, gewahrt. Diese Kamerastandorte, vor allem derjenige über dem Eingang zur Autoeinstellhalle und in der Halle selbst, liessen sich mit den Zielen der Überwachung vereinbaren und die Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte des Beschwerdegegners erscheine als zumutbar, da bei einem rechtswidrigen Betreten der Autoeinstellhalle durch Unbefugte Sachwerte unmittelbar bedroht würden.

III. FAZIT

Ob die Persönlichkeit eines Mieters durch eine Videoüberwachungsanlage verletzt wird, ist durch umfassende Abwägung der Interessen des Mieters sowie des Vermieters und allfälliger der Kameraüberwachung zustimmender Mitmieter zu beurteilen. In Bereichen, die der Privatsphäre unterliegen, wie beispielsweise dem Hauseingang sowie dem Durchgang zur Waschküche, beurteilt das Bundesgericht die Beeinträchtigung der Privatsphäre durch eine Videoüberwachung als übermässig. Zulässig sind Überwachungsanlagen jedoch auf dem Vorplatz zum Hauseingang oder über dem Eingang zur Autoeinstellhalle, da die Persönlichkeitsrechte des Mieters durch Kameras an diesen Standorten weniger beeinträchtigt werden, da Kameras an diesen Standorten keine systematische Erhebung des Verhaltens des Mieters ermöglichen, wie dies bei Kameras im Hauseingang der Fall ist. Folglich kann der Mieter vorliegend gestützt auf Art. 15 DSG die Beseitigung der Kameras im Hauseingang und im Durchgang zur Waschküche verlangen.
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25. April 2016 / lic. iur. Stephan Hinz


DIE BEWEISSICHERE ATEMALKOHOLPROBE – GELTEND AB 1. OKTOBER 2016

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt, und BLaw Sonja Plüss

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Vom Parlament wurde im Rahmen der „Via sicura“ die Einführung der beweissicheren Atemalkoholprobe beschlossen, welche im Strassenverkehr ab 1. Oktober 2016 eingesetzt werden wird. Bereits bisher konnte die Fahrunfähigkeit mit Hilfe einer Atemalkoholprobe durchgeführt werden. Dies genügte bis anhin jedoch nur als Beweis, wenn der Wert unter 0,80 Promille lag und die betroffene Person diesen Wert mit ihrer Unterschrift anerkannte.

In allen anderen Fällen musste die Blutalkoholkonzentration mittels einer Blutentnahme durch einen Arzt bestimmt werden. Ab 1. Oktober 2016 wird nunmehr eine Blutprobe nur bei Verdacht auf Betäubungsmittelkonsum, auf Verlangen des Betroffenen oder in Ausnahmefällen (z.B. bei Atemwegserkrankungen) angeordnet werden. 

Eingeführt wurde die beweissichere Atemalkoholprobe zum einen, weil inzwischen technisch hoch entwickelte Geräte erhältlich sind und zum anderen soll der Ablauf vereinfacht werden (Zeitersparnis und Kosteneindämmung). Die Zeitersparnis ermöglicht es die Kontrollkapazitäten der Polizei zu intensivieren. Des Weiteren muss der betroffene Verkehrsteilnehmer keinen körperlichen Eingriff mehr erdulden.

I. NEUE MESSEINHEIT

Bei einer Atemalkoholprobe wird ein Verkehrsteilnehmer von der Polizei dazu aufgefordert, in ein Röhrchen zu blasen. Dabei wird gemessen, wie viel Alkohol die betroffene Person in ihrer Atemluft hat (Milligramm Alkohol pro Liter Atemluft). Bei einer Blutalkoholprobe hingegen, welche von Seiten der Staatsanwaltschaft angeordnet sein muss (vgl. unser Newsletter vom 21. Dezember 2015 – Verweigerung der Blut- und Urinprobe), wird der betroffenen Person durch einen Arzt Blut entnommen. Hierbei wird ermittelt, wie viel Alkohol der Getestete im Blut hat (Gramm Alkohol pro Kilo Blut – dies entspricht dem „Promille“).

Da neu nun die Blutalkoholprobe nur noch in Ausnahmefällen zum Zuge kommen wird und die Atemalkoholprobe die Regel sein wird, wurden – neben den bereits bestehenden Blutalkoholgrenzwerten – noch eigene Grenzwerte für den Atemalkohol festgelegt. Gemäss dem Bundesamt für Strassen ASTRA wurden die Grenzwerte dabei aber nicht verändert, sondern einzig in einer anderen Messeinheit angegeben. Dabei wird der Wert (in Promille) der Blutalkoholkonzentration einfach halbiert, um so den Wert (in mg/L) einer Atemalkoholprobe zu erhalten. Somit werden folgende Grenzwerte relevant:

Fahren in angetrunkenem Zustand:

Blutalkoholkonzentration ≥ 0,50 ‰ (bisher und weiterhin geltend)

Neuer Grenzwert ab 1.10.2016: Atemalkoholkonzentration ≥ 0,25 mg/L

Fahren mit qualifizierter Alkoholkonzentration (qualifizierter FiaZ):

Blutalkoholkonzentration ≥ 0,80 ‰ (bisher und weiterhin geltend)

Neuer Grenzwert ab 1.10.2016: Atemalkoholkonzentration ≥ 0,40 mg/L

II. UMRECHNUNGSFAKTOR

Durch einen Diffusionsprozess kommt der Alkohol durch das Blut auch in die Atemluft. Die Alkoholkonzentration ist jedoch in der Atemluft geringer als im Blut. Die Atemalkoholkonzentration kann man problemlos in eine Blutalkoholkonzentration umrechnen – hierbei handelt es sich jedoch nur um einen Mittelwert und nicht um einen individuellen Wert. Dies ist problematisch, da dieser Wert zwischen verschiedenen Menschen enorm schwankt. Eine gemessene Atemalkoholkonzentration von 0,4 mg/L, welche einer Blutalkoholkonzentration von 0,8 Promille entsprechen sollte, kann individuell von 0,29 bis 1,31 Promille schwanken. Hierbei gilt es zu bedenken, dass nur der Blutalkoholwert eine effektive Aussage über die Fahrunfähigkeit machen kann, denn es ist die Alkoholmenge im Blut, welche im Gehirn zur entsprechenden Beeinträchtigung und damit Fahrunfähigkeit führt. Somit erscheint es doch eher als fraglich, den Wert der Atemalkoholkonzentration als Grundlage einer strafrechtlich relevanten Norm zu sehen. Dennoch wird dies ab 1. Oktober 2016 so sein.

III. STRAFBARKEIT

Während das Fahren in angetrunkenem Zustand (Blutalkoholkonzentration ≥ 0,50 ‰ / Atemalkoholkonzentration ≥ 0,25 mg/L) gemäss Art. 91 SVG noch mit einer Busse bestraft wird, kann bei der sogenannten „qualifizierten“ Alkoholkonzentration (Blutalkoholkonzentration ≥ 0,80 ‰ / Atemalkoholkonzentration ≥ 0,40 mg/L) gemäss Art. 91 SVG bereits eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe drohen.

IV. DURCHFÜHRUNG DER ATEMALKOHLPROBE

Weiterhin werden Atemalkoholproben mit dem bisherigen AtemalkoholTESTgerät durchgeführt (dies frühestens 20 Minuten nach Ende des Alkoholkonsums). Hierbei sind zwei Messungen erforderlich. Diese dürfen nicht mehr als 0,05 mg/L voneinander abweichen, ansonsten müssen zwei neue Messungen vorgenommen werden. Wird hierbei ein Wert grösser als 0,40 mg/L festgestellt, wird eine weitere Atemalkoholprobe mit einem neuen AtemalkoholMESSgerät durchgeführt (sofern die erste Probe nicht bereits mit diesem erfolgte). Die Polizei ist dabei allfällig verpflichtet, die betroffene Person darauf hinzuweisen, dass sie eine Blutprobe verlangen kann und dass die Anerkennung des Ergebnisses der Atemalkoholprobe die Einleitung massnahme- und strafrechtlicher Verfahren zur Folge hat.

V. FAZIT

Grundsätzlich will der Gesetzgeber diejenigen Fahrzeugführer bestrafen, deren Fahrtüchtigkeit durch übermässigen Alkoholkonsum eingeschränkt ist, da sie andere Verkehrsteilnehmer gefährden. Die Fahrfähigkeit ist dort beeinträchtigt, wo eine bestimmte Menge Alkohol über das Blut in das Gehirn gelangt. Somit ist die Blutalkoholkonzentration der alles entscheidende Wert. Ab 1. Oktober 2016 sieht nun der Gesetzgeber vor, dass die Blutalkoholkonzentrationsmessung in den Hintergrund tritt und dafür die Atemalkoholkonzentrationsmessung den primären zu beachtenden Wert darstellt und als zulässiges Messinstrument für einen qualifizierten FiaZ (Blutalkoholkonzentration ≥ 0,80 ‰ / Atemalkoholkonzentration ≥ 0,40 mg/L) gilt. Dies obwohl die Gefahr besteht, dass Menschen, bei denen aus physiologischen Gründen der Wert vom Mittel abweicht, entweder zu ihren Ungunsten bestraft oder zu ihren Gunsten nicht bestraft werden. Diese Ungereimtheit nimmt der Gesetzgeber vorderhand in Kauf.

TAKE HOME MESSAGE

Gerät nun ein Fahrzeuglenker in eine Polizeikontrolle und es wird ein qualifiziertes FiaZ (Blutalkoholkonzentration ≥ 0,80 ‰ / Atemalkoholkonzentration ≥ 0,40 mg/L) festgestellt, obwohl der Lenker – seines Wissens (aber Achtung vor falscher Selbsteinschätzung) – nur geringe Mengen von Alkohol zu sich genommen hatte sowie das Trinkende relativ nah liegt, sollte er auf jeden Fall auf eine Blutprobe bestehen, um der Gefahr einer „ungerecht“ hohen Strafe, ausgelöst durch eine zu hohe Atemalkoholkonzentration, zu entgehen.

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12. April 2016, lic. iur. Stephan Hinz


VERWEIGERUNG DER BLUT- UND URINPROBE

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt, und Matthias Meier, MLaw 

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Es gehört zum Standardprozedere einer Verkehrskontrolle: Wenn die Polizei beim Fahrzeugführer Anzeichen von Drogenkonsum feststellt, wird ein sogenannter Drogen-Vortest durchgeführt. Ist das Resultat positiv, drängt sich zur Überprüfung des Tests eine Blut- und Urinuntersuchung im Spital auf. Weigert sich der Fahrzeuglenker, eine solche durchführen zu lassen, kann er sich der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit strafbar machen (Art. 91a SVG). Das Aargauer Obergericht hat sich in einem neuen Entscheid mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Polizei eine solche Blut- und Urinuntersuchung anordnen darf oder ob es einer Anordnung durch die Staatsanwaltschaft bedarf.

I. DER ENTSCHEID DES AARGAUER OBERGERICHTS

Dem bisher unveröffentlichten, aber rechtskräftigen Urteil des Aargauer Obergerichts vom 20. Oktober 2015 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Anlässlich einer Verkehrskontrolle wurde bei einem Autofahrer aufgrund äusserer Anzeichen von Drogenkonsum ein Vortest durchgeführt, der positiv auf Cannabis verlief. Die Polizei wies den Fahrer darauf hin, dass sich eine Blut- und Urinuntersuchung aufdränge und machte ihn darauf aufmerksam, dass eine Verweigerung der Blut- und Urinprobe strafrechtliche und administrative Konsequenzen nach sich ziehen würde. Trotzdem verweigerte der Autofahrer die Blut- und Urinprobe. Nach Rücksprache mit dem zuständigen Pikett-Staatsanwalt wurde schliesslich keine zwangsweise Blutentnahme angeordnet.

Das Aargauer Obergericht musste unter anderem beurteilen, ob sich der Autofahrer durch sein Verhalten nach Art. 91a des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) strafbar gemacht hat. Dieser lautet wie folgt:

Art. 91a SVG (Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit) 

Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer sich als Motorfahrzeugführer vorsätzlich einer Blutprobe, einer Atemalkoholprobe oder einer anderen vom Bundesrat geregelten Voruntersuchung, die angeordnet wurde oder mit deren Anordnung gerechnet werden musste, oder einer zusätzlichen ärztlichen Untersuchungwidersetzt oder entzogen hat oder den Zweck dieser Massnahmen vereitelt hat.

Hat der Täter ein motorloses Fahrzeug geführt oder war er als Strassenbenützer an einem Unfall beteiligt, so ist die Strafe Busse.

Durch diese Gesetzesbestimmung soll verhindert werden, dass sich der korrekt einer solchen Massnahme unterziehende Führer schlechter wegkommt als derjenige, der sich ihr entzieht oder sie sonstwie vereitelt (Urteil des Bundesgerichts vom 5.11.2012, 6B_229/2012, E. 2 m.H.). Art. 91a SVG setzt voraus, dass der Täter verpflichtet war, sich einer Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit zu unterziehen bzw. bei der Durchführung einer solchen Massnahme mitzuwirken. Eine solche Verpflichtung besteht jedoch nur, wenn die Massnahme gültig angeordnet wurde oder der Täter mit einer Massnahme rechnen musste.

Die Anordnung der Blut- und Urinuntersuchung war vorliegend die Folge eines Anfangsverdachts (äussere Anzeichen von Drogenkonsum sowie positiver Drogenschnelltest). Es handelt sich bei der Anordnung nicht um eine polizeiliche, sondern um eine strafprozessuale Zwangsmassnahme im Sinne von Art. 251 der Strafprozessordnung (StPO). Zuständig für den Erlass ist die Staatsanwaltschaft (Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO). Das Aargauer Obergericht urteilte aufgrund dieser Normen im geschilderten Fall, dass die Polizei für die Anordnung einer Blut und Urinuntersuchung nicht zuständig gewesen sei. Es hätte einer Anordnung durch die Staatsanwaltschaft selbst bedurft. Die Ansicht des Bezirksgerichts Baden bzw. der Staatsanwaltschaft Baden, wonach eine Weisung der Oberstaatsanwaltschaft ausreiche, aufgrund welcher die Untersuchung von Urin- und Blutproben in Routinefällen in genereller Weise als durch die Staatsanwaltschaft angeordnet gelte und somit durch die Polizei vorgenommen werden könne, teilte das Obergericht nicht. Ein solches Vorgehen sei auch bei anderen Zwangsmassnahmen (z.B. Untersuchungshaft) nicht gestattet. Das Obergericht verwies bei seinem Urteil auch auf einen neuen Entscheid des Bundesgerichts (BGE 141 IV 87), in welchem dieses ausführlich zur Erstellung eines DNAProfils Stellung nahm und dabei zum Schluss kam, dass jeweils die Staatsanwaltschaft die Prüfung der Einzelfälle vornehmen müsse und die Anordnungskompetenz nicht in genereller Weise an die Polizei delegiert werden dürfe. Aufgrund dieser Erwägungen sprach das Obergericht den Autofahrer vom Vorwurf der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit nach Art. 91a Abs. 1 SVG frei.

II. RECHTSFOLGEN FÜR DIE PRAXIS

Das Urteil des Aargauer Obergerichts könnte für viele Fälle in der Praxis wegweisend sein. Es geht um die Kompetenzfrage, welche Handlungen die Staatsanwaltschaft selbst vorzunehmen hat und welche sie an die Polizei delegieren darf. Art. 198 Abs. 1 lit. c StPO sieht vor, dass die Polizei nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen selbst Zwangsmassnahmen anordnen darf, ohne dass hierfür eine staatsanwaltschaftliche Anordnung vorliegen muss. Das betrifft beispielsweise die Vornahme von Vorladungen (Art. 206 StPO), Vorführungen (Art. 207 ff. StPO), vorläufigen Festnahmen (Art. 217 StPO) und verdeckten Observationen (Art. 282 StPO). Zudem kann die Polizei teilweise auch in dringenden Fällen selbst Verfahrenshandlungen vornehmen (z.B. Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen von Gegenständen).

Der Entscheid des Aargauer Obergerichts besagt nun, dass immer dann, wenn sich ein Autofahrer trotz Androhung strafrechtlicher und administrativer Konsequenzen weigert, eine Blut- und Urinuntersuchung vorzunehmen, eine staatsanwaltschaftliche Anordnung zu erfolgen hat. Liegt diese nicht vor, kann der Autofahrer nicht nach Art. 91a SVG bestraft werden. Eine andere Frage, welche das Gericht in seinem Entscheid nicht beantwortet hat, ist indes, ob die Polizei einen Fahrzeuglenker dazu auffordern kann, freiwillig eine Blut- und Urinprobe abzugeben und eine individuell-konkrete Anordnung der Staatsanwaltschaft erst für den Fall vorgesehen wird, wenn sich ein Betroffener weigert.

III. AUFHEBUNG DER STRAFBARKEIT IN FRÜHEREN FÄLLEN?

Aufgrund des Urteils des Aargauer Obergerichts könnten sich Personen, gegen welche aufgrund eines ähnlichen Vorfalls ein rechtskräftiges Urteil oder ein (nicht angefochtener) Strafbefehl vorliegt, die Frage stellen, ob ihr Urteil bzw. ihr Strafbefehl nachträglich aufgehoben werden müsste. Ob eine Abänderung oder Aufhebung eines Urteils oder eines Strafbefehls möglich ist, beurteilt sich nach den Bestimmungen über die Revision (Art. 410 ff. StPO). Entscheidend für ein erfolgreiches Revisionsbegehren ist, ob eine neue Rechtsprechung zu einer Abänderung von früheren Urteilen führen kann. Dies ist für die vorliegende Sache zu verneinen. Bei anderen Bewertungen und neuen Rechtsauffassungen handelt es sich nicht um neue Tatsachen oder Beweise. Gestützt auf eine Gesetzesänderung nach Rechtskraft des Urteils kann ebenso wenig eine Revision eingeleitet werden wie mit derBehauptung einer mittlerweile eingetretenen, also neuen oder geänderten Rechtsanschauung oder einer Änderung der Rechtsprechung. Personen, welche rechtskräftig verurteilt sind, können also nicht mit Hinweis auf das Urteil des Aargauer Obergerichts eine Revision ihres eigenen Verfahrens verlangen.

IV. FAZIT

Beim Urteil des Aargauer Obergerichts geht es um die Kompetenzfrage, welche Handlungen die Staatsanwaltschaft selbst vorzunehmen hat und welche sie an die Polizei delegieren darf. Weigert sich ein Autofahrer, eine Blut- und Urinuntersuchung durchführen zu lassen, muss die Staatsanwaltschaft die entsprechende Untersuchung anordnen. Anderenfalls macht sich der Autofahrer nicht strafbar im Sinne von Art. 91a SVG, wenn er die Blutuntersuchung verweigert. Personen, welche in einem früheren Verfahren verurteilt worden sind, können jedoch nicht mit Hinweis auf den Entscheid des Aargauer Obergerichts eine Revision ihres eigenen Urteils verlangen.

Eine geänderte Rechtsanschauung oder eine Änderung der Rechtsprechung reichen hierfür nicht aus.

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21. Dezember 2015 / lic. iur. Stephan Hinz


ZULÄSSIGKEIT DER EINTRAGUNG VON EWERBEBESCHRÄNKUNGEN (KONKURRENZVERBOTEN ETC.) IM GRUNDBUCH

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Mit einer im Grundbuch eingetragenen Dienstbarkeit verpflichtet sich das belastete Grundstück bzw. der jeweilige Grundeigentümer zu einem Dulden oder Unterlassen zu Gunsten des berechtigten Grundstücks. Dieses Institut wurde und wird oft dazu verwendet, unliebsame Konkurrenz in der unmittelbaren Nachbarschaft zu verhindern. In der herrschenden Lehre und der Praxis der Grundbuchämter besteht diesbezüglich eine klare Auffassung – anders sieht es das Bundesgericht. Wie ist die aktuelle Rechtslage zu beurteilen?

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I. RECHTLICHE REGELUNG VON GEWERBEBESCHRÄNKUNGEN

Gewerbebeschränkungen sind vom Gesetzgeber grundsätzlich nur im Rahmen baurechtlicher Nutzungsbeschränkungen vorgesehen und damit dem öffentlichen Recht unterstellt. Sie treten in aller Regel in Vorschriften von Bauordnungen und Zonenplänen auf. Diese gesetzmässigen gewerblichen Einschränkungen sind nicht grundbuchfähig.

Gewerbebeschränkungen können aber auch im Bereich privatrechtlicher Vereinbarungen eine Rolle spielen und unterliegen damit der Vertragsfreiheit. Grundeigentümer wünschen sich beispielsweise beim Verkauf einer Liegenschaft oft auch eine grundbuchliche Verankerung einer solchen privatrechtlichen Gewerbebeschränkung oder aber eines solchen privatrechtlichen Konkurrenzverbotes.

II. HEUTIGE PRAXIS VS. BUNDESGERICHT

Reine Gewerbebeschränkungen im Sinne öffentlich-rechtlicher Bestimmungen oder aber im Sinne reiner privatrechtlicher Konkurrenzverbote sind im Grundbuch grundsätzlich nicht eintragungsfähig. Der Grund dafür liegt darin, dass eine Dienstbarkeit nicht die wirtschaftliche Betätigung eines Grundeigentümers zum Inhalt haben kann, sofern diese nach aussen nicht beispielsweise in Form von Immissionen mit direktem Zusammenhang zum Gebrauch bzw. der Eigenart des Grundstückes auftritt.

Die Grundbuchpraxis war und ist entsprechend sehr zurückhaltend mit der Eintragung von in Dienstbarkeitsform verpackten Konkurrenzverboten. Anders sieht es hingegen das Bundesgericht, welches diese Fragen, sofern sie denn überhaupt je zu beantworten waren, jeweils sehr grosszügig beantwortet hat. So wurden vom Bundesgericht auch offensichtliche Konkurrenzverbote als im Grundbuch eintragungsfähig qualifiziert. Diese Bundesgerichtspraxis ist in der herrschenden Lehre stark umstritten, wurde bislang jedoch nicht umgestossen. Ob diese noch immer herrschende Praxis des Bundesgerichts in einem neueren Anwendungsfall noch immer Bestätigung finden würde, darf als zweifelhaft qualifiziert werden. Derzeit sieht die Situation jedoch so aus, dass Grundbuchämter betreffend dieser Frage einhergehend mit der herrschenden Lehre eine strenge Praxis haben, d.h. dass solche Konkurrenzverbote in aller Regel nicht eingetragen werden.

III. BEISPIELE AUS DER RECHTSPRECHUNG

– Die Eintragung einer unbefristeten Personaldienstbarkeit, welche vorsah, dass sich der eine Grundeigentümer gegenüber dem anderen verpflichtet, jeglichen Handel mit Treibstoffen und dergleichen zu Gunsten des berechtigten Grundeigentümers zu unterlassen, wurde verweigert. Dies mit der Begründung, eine solche Verpflichtung beschränke ausschliesslich die persönliche Freiheit des Grundeigentümers, nicht aber die Sachnutzung des Grundstückes. Dies insbesondere darum, weil die dem Grundbuchamt eingereichten privatrechtlichen Verträge deutlich darauf hinweisen würden, dass es in keinster Weise um die Verhinderung von irgendwelchen Immissionen gehe, sondern alleine die dingliche Absicherung eines Konkurrenzverbotes Absicht der Vereinbarung sei. Der Fall wurde nur bis zum Kantonsgericht weitergezogen und dort bestätigt. Eine bundesgerichtliche Beurteilung blieb aus.

– Das Bundesgericht erachtete hingegen die Eintragung einer Grunddienstbarkeit, gemäss welcher auf dem belasteten Grundstück keine Bäckerei oder Konditorei betrieben werden durfte, als zulässig. Dies mit der Begründung, die Nutzung des Grundstückes zu Zwecken des Handels und Gewerbes präge den wirtschaftlichen und sozialen Charakter des Grundstückes in jedem Fall, was eine Grunddienstbarkeit als eintragungsfähig qualifiziere.

Die Lehre hatte diesen Entscheid stark kritisiert. Immerhin kann zugunsten der bundesgerichtlichen Sicht argumentiert werden, dass sich im Bereich des Betriebs einer Bäckerei allenfalls noch immissionsrechtliche Argumente finden lassen würden.

III. SCHLUSSFOLGERUNG

Entsprechend der herrschenden Praxis der Grundbuchämter und der – soweit überblickbar – flächendeckenden kantonalen Rechtsprechung besteht die einhellige Auffassung, dass als Konkurrenzverbot verklausulierte Grunddienstbarkeiten nicht als ins Grundbuch eintragungsfähig gelten. Dies obschon diesbezüglich an sich eine anderslautende bundesgerichtliche Rechtsprechung besteht. Es kann festgestellt werden, dass die herrschende Lehre, welche der bundesgerichtlichen Praxis widerspricht, von den Erstanwendern, d.h. von den Grundbuchämtern und Aufsichtsbehörden, als die richtige angesehen wird. Eine neuste bundesgerichtliche Rechtsprechung zu dieser Thematik fehlt leider. Aus dieser Situation darf nicht automatisch gefolgert werden, dass bei einer aktuellen Anrufung des Bundesgerichts in einer diesbezüglichen Frage Letzteres seine bisherige Praxis ändern würde – aber es darf diesbezüglich zumindest von einiger Wahrscheinlichkeit gesprochen werden. Dies bedeutet, dass sich die Praxis ganz klar der herrschenden Lehre angepasst hat und die etwas in die Jahre gekommene bundesgerichtliche Praxis wohl als überholt qualifiziert werden darf.

Kurz: Es wird zunehmend schwerer bis unmöglich, reine Konkurrenzverbote als Grunddienstbarkeit zu vergrundbuchen.

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5. Juni 2015 / lic. iur. Stephan Hinz


WAS TUN GEGEN UNGERECHTFERTIGTE BETREIBUNGEN?

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt, und Fiona Sauer, M.A.HSG 

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Wird man mittels Zahlungsbefehl betrieben, so stellt dies immer eine unangenehme Angelegenheit dar, insbesondere dann, wenn die Betreibung ungerechtfertigt erfolgt. Das Mittel der Betreibung wird oft missbraucht, um einen vermeintlichen Schuldner unter Druck zu setzen. Das Bundesgericht hat es in einem kürzlich erschienen Urteil (4A_414/2014 vom 16. Januar 2015) vereinfacht, sich mit einer negativen Feststellungsklage gegen eine ungerechtfertigte Betreibung wehren zu können, indem das schutzwürdige Interesse für die negative Feststellungsklage grundsätzlich bereits dann besteht, wenn eine Forderung in Betreibung gesetzt wurde.

I. HINTERGRUND UND BISHERIGE RECHTSPRECHUNG

Das schweizerische Vollstreckungsrecht sieht vor, dass ein Gläubiger eine Betreibung einleiten kann, ohne dass er den Bestand seiner Forderung nachweisen muss. Dies bedeutet, dass grundsätzlich jeder von jedem betrieben werden kann, unabhängig davon, ob tatsächlich eine Schuld besteht oder nicht. Sobald eine Betreibung eingeleitet wird, erscheint dies im Betreibungsregisterauszug der betroffenen Person, wobei das Betreibungsregister interessierten Dritten zur Einsicht offen steht. Ein „weisser“ Auszug aus dem Betreibungsregister ist viel Wert, insbesondere bei der Wohnungs- und Stellensuche oder bei einer Kreditvergabe, da dieser dem Betreffenden Zahlungsmoral und finanzielle Vertrauenswürdigkeit attestieren kann. Ein Eintrag im Betreibungsregister kann daher weitreichende negative Folgen für den Betriebenen haben.

Die Möglichkeiten, sich gegen eine ungerechtfertigte Betreibung zu wehren, sind begrenzt. Der Betriebene kann Rechtsvorschlag erheben, womit die Betreibung vorerst nicht fortgesetzt und der Gläubiger auf den Rechtsweg verwiesen wird. Auch wenn der Gläubiger keine weiteren Schritte unternimmt, bleibt die Betreibung jedoch während fünf Jahren im Betreibungsregister eingetragen und kann von interessierten Dritten gemäss Art. 8a SchKG eingesehen werden. Damit ein Eintrag Dritten nicht bekannt gegeben wird, muss die Betreibung entweder vom Gläubiger zurückgezogen werden, oder die Betreibung muss aufgrund eines gerichtlichen Entscheids aufgehoben worden sein. Dazu steht dem Betriebenen die Klage auf Feststellung des Nichtbestehens der in Betreibung gesetzten Forderung offen (negative Feststellungsklage).

Nach bisheriger Rechtsprechung konnte die negative Feststellungsklage nur dann erhoben werden, wenn ein hinreichendes Interesse an der Feststellung des Nichtbestehens einer Forderung bestand. Konkret bedeutete dies, dass dieses Interesse nur dann bejaht wurde, wenn namhafte Beträge und nicht bloss Bagatellbeträge in Betreibung gesetzt wurden, und wenn der Betriebene aufzeigen konnte, dass er aufgrund der Betreibung in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit behindert wird. Ein schutzwürdiges Interesse lag damit nicht bereits mit einer laufenden Betreibung vor, sondern es mussten vom Betriebenen diese zusätzlichen Tatsachen nachgewiesen werden.

Auch wenn namhafte Beträge in Betreibung gesetzt wurden und der Betriebene in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit behindert wurde, blieb dem Gläubiger der Nachweis offen, dass ihm die Beweisführung gegenwärtig aus triftigen Gründen noch nicht zuzumuten sei. Ein zu Unrecht Betriebener, welcher die Betreibung möglichst schnell mittels einer negativen Feststellungsklage aus dem Betreibungsregister löschen wollte, nahm bis anhin das Risiko auf sich, dass auf die kostenvorschusspflichtige Klage gar nicht eingetreten wurde, wenn er kein schutzwürdiges Interesse nachweisen konnte.

II. BUNDESGERICHTSURTEIL 4A_414/2014 VOM 16. JANUAR 2015

Im Urteil 4A_414/2014 vom 16. Januar 2015 hat das Bundesgericht diese Rechtsprechung bezüglich des schutzwürdigen Interesses geändert. Dem Urteil lag der Sachverhalt zugrunde, dass ein Betriebener eine negative Feststellungsklage gegen die betreibende Inkassoagentur erhob. Das Bezirksgericht Winterthur trat auf die Klage ein und hiess sie gut, wogegen die Inkassoagentur Berufung mangels Feststellungsinteresse erhob. Nach Abweisung der Berufung durch das Obergericht des Kantons Zürich erhob die Inkassoagentur beim Bundesgericht Beschwerde in Zivilsachen. Sie machte wiederum geltend, dass kein schutzwürdiges Interesse des Betriebenen vorlag und daher auf die negative Feststellungsklage nicht hätte eingetreten werden dürfen.

Das Bundesgericht wies die Beschwerde der Inkassoagentur ab und lockerte dabei seine bisherige Praxis zur Zulässigkeit einer negativen Feststellungsklage. In den Erwägungen wurden die bisherige Praxis und die Kritik in der Lehre aufgezeigt, wobei festgestellt wurde, dass eine ungerechtfertigte Betreibung erhebliche Nachteile für die verzeichnete Person mit sich bringen kann. Gestützt auf diese Erwägungen entschied das Bundesgericht, dass die Anforderungen an das schutzwürdige Interesse weiter gelockert werden, indem grundsätzlich das Feststellungsinteresse zu bejahen ist, sobald eine Forderung in Betreibung gesetzt wurde. Die zusätzlichen Nachweise, dass ein namhafter Betrag vorliegt und der Betriebene in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit konkret beeinträchtigt ist, müssen nicht mehr erbracht werden. Als einzigen Vorbehalt wird vom Bundesgericht der Fall genannt, in dem die Betreibung nachweislich einzig zur Unterbrechung der Verjährung einer Forderung eingeleitet werden muss, nachdem der Betriebene vorgängig die Unterzeichnung einer Verjährungsverzichtserklärung verweigert hat und die Forderung vom Gläubiger aus triftigen Gründen nicht sofort im vollen Umfang gerichtlich geltend gemacht werden kann.

Durch diese Änderung wird es für einen zu Unrecht Betriebenen wesentlich leichter, sich gegen eine Betreibung zu wehren. Zudem wurde das (Kosten-)Risiko, dass nicht auf die negative Feststellungsklage eingetreten wird, erheblich reduziert, was aus Sicht des Betriebenen zu begrüssen ist. Aufpassen muss unter dieser Rechtsprechung hingegen der Betreibende, welcher, wenn er zu Unrecht oder aber zu hoch betreibt, nun eher damit rechnen muss, mittels negativer Feststellungsklage eingeklagt zu werden und diesen Prozess kostenpflichtig (samt Parteikosten) verlieren zu können. Ein Gläubiger kann im Falle einer ungerechtfertigten Betreibung diese immerhin auch nach Einreichung einer negativen Feststellungsklage noch zurückziehen. Dabei treffen ihn jedoch auch schon Kosten- und Entschädigungsfolgen. Festzuhalten bleibt, dass auch unter der neuen Praxis dem Betriebenen als Kläger das allgemeine Prozessrisiko bleibt und er die Kosten des Verfahrens vorzuschiessen hat.

III. FAZIT

Durch die Änderung der Rechtsprechung, dass bei einer negativen Feststellungsklage das erforderliche schutzwürdige Interesse grundsätzlich bereits dann besteht, wenn eine Forderung in Betreibung gesetzt wurde, kann erwartet werden, dass zukünftig weniger ungerechtfertigte „Schikane-Betreibungen“ angehoben werden bzw. ein Gläubiger beim Einreichen einer Betreibung vorsichtiger wird. Inwiefern durch die Lockerung der Praxis mehr Zivilprozesse entstehen werden, wird sich zeigen müssen.

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27. Februar 2015 / lic. iur. Stephan Hinz

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