12. Juni 2025

Güterrecht: Massgeblicher Zeitpunkt für die Bewertung von Wertpapierdepots in der Errungenschaft

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt MLaw Kim Hirzel, Anwaltspraktikantin

Im Entscheid 5A_967/2023 vom 4. November 2024 hat sich das Bundesgericht mit der Frage des massgebenden Zeitpunkts für die Bewertung von Wertschriftdepotkonten auseinandersetzt. Mit seinem Entscheid konkretisierte das Bundesgericht einerseits seine bisherige Rechtsprechung und schuf andererseits Klarheit in Bezug auf deren prozessrechtliche Umsetzung.

1. GRUNDSATZ

Grundsätzlich hält Art. 207 Abs. 1 ZGB fest, dass beim ordentlichen Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung die Errungenschaft und das Eigengut eines jeden Ehegatten nach ihrem Bestand im Zeitpunkt der Auflösung des Güterstandes ausgeschieden wird. Das bedeutet, dass der Zeitpunkt der Auflösung des Güterstandes massgebend dafür ist, welche Vermögenswerte dem Eigengut des jeweiligen Ehegatten und welche der Errungenschaft zuzuordnen sind. Für die konkrete Bewertung der vorhandenen Güter in der Errungenschaft ist von Gesetzes wegen auf den Verkehrswert im Zeitpunkt der Auseinandersetzung abzustellen (Art. 214 Abs. 1 ZGB sowie Art. 211 ZGB).

Insbesondere bei Wertschriften, die starken Wert-schwankungen unterliegen können, stellt sich regelmässig die Frage, ob allfällige Verluste oder Gewinne bis zum Zeitpunkt der güterrechtlichen Auseinandersetzung, d.h. bis zum Urteilszeitpunkt, mit in die Errungenschaft fliessen und entsprechend zwischen den Ehegatten aufzuteilen sind.

2. DIE BEWERTUNG VON WERTPAPIEREN IN DER ERRUNGENSCHAFT

Das Bundesgericht hielt in seinem aktuellen Entscheid grundsätzlich fest, dass klar zwischen dem massgeblichen Zeitpunkt für die Zusammensetzung der Vermögensmassen und dem massgeblichen Zeitpunkt für die Schätzung des Werts dieser Vermögensmassen unterschieden werden müsse (BGer 5A_967/2023 vom 4. November 2024 E. 6.2.). So sei unter anderem auch zu berücksichtigen, ob der Wert der Vermögenswerte, die der Errungenschaft zuzuordnen sind, zwischen der Auflösung und der effektiven güterrechtlichen Auseinandersetzung gestiegen oder gesunken sei.

Davon ausgenommen sind allerdings Änderungen in der Zusammensetzung der Errungenschaft bzw. der darin enthaltenen Vermögenswerte. Bereits im Leitentscheid BGE 137 III 337 stellte das Bundesgericht klar, dass die Zusammensetzung der Errungenschaftsmasse nach der Auflösung des Güterstands nicht mehr geändert werden darf. Dementsprechend entsteht nach der Auflösung des Güterstands im Grundsatz weder auf der Aktiv- noch auf der Passivseite Errungenschaft, die für die güterrechtliche Auseinandersetzung zu berücksichtigen wäre. Diese Rechtsprechung führt dazu, dass Erträge von Vermögenswerten, wie bspw. Zinsen auf einem Bankkonto, die nach der Auflösung des Güterstands angefallen sind, für die Bewertung nicht berücksichtigt werden. Die Vorinstanz im Entscheid 5A_967/2023 qualifizierte vor diesem Hintergrund das Wertpapierdepotkonto der Ehegatten als Bankkonto und berief sich damit auf die in der Rechtsprechung etablierte Ausnahme vom Grundsatz der Bewertung der Errungenschaft im Zeitpunkt der Auflösung des Güterstands (vgl. Art. 214 Abs. 1 ZGB). Die Vorinstanz erachtete daher den Wert des Kontos zum Zeitpunkt der Auflösung des Güterstands als massgebend für die Bewertung.

Das Bundesgericht hielt in der Folge fest, dass diese Bewertung unrichtig erfolgte. Das Risiko von Wertschwankungen bestimmter Vermögenswerte – wie beispielsweise Wertpapierportfolios, Goldbarren, Immobilien –, die nach der Auflösung des Güterstands auftreten, sei gemäss der Ansicht des Bundesgerichts für die gesamte Dauer des Scheidungsverfahrens zwischen den Ehegatten aufzuteilen. Darunter falle auch das konkret vorliegende Wertpapierdepotkonto, weshalb seine Wertschwankungen zu berücksichtigen seien und auf den Wert des Depots zum Zeitpunkt der güterrechtlichen Auseinandersetzung abzustellen sei.

3. PROZESSRECHTLICHE AUSWIRKUNGEN

Im Zusammenhang mit der Bewertung von Vermögenswerten der Errungenschaft obliegt es daher grundsätzlich den Parteien, deren Verkehrswert zu belegen und vor Gericht vorzubringen. Befanden sich Wertschriften in der Errungenschaft, führte dies regelmässig dazu, dass die Parteien während des Scheidungsverfahrens regelmässig Belege für den aktuellen Verkehrswert der Wertschriften einreichen mussten, da sich der Wert der Wertschriften bis zum Ergehen des Scheidungsurteils stets änderte. Insbesondere bei längeren Scheidungsprozessen führte die Verhandlungsmaxime daher zu einer umständlichen Rechtslage und einer gewissen Unsicherheit, da stets das Risiko bestand, dass eine aktuelle Bewertung der Wertschriften gar nicht oder zu spät vorgebracht wurde.

Die damit verbundene Problematik zeigt der Entscheid 5A_967/2023 vom 4. November 2024 beispielhaft auf. Der Beschwerdegegner behauptete nämlich, die Beschwerde-führerin habe es versäumt, die aktualisierten Belege für die Bewertung der Wertpapiere rechtzeitig vorzulegen. Das Bundesgericht hielt in der Folge fest, dass trotz der Geltung der Verhandlungsmaxime das Gesetz die Grundlage dafür biete, dass der Richter fehlende Dokumente von den Parteien einverlangen könne (Art. 277 Abs 2 ZPO). Wurde die Tatsache, die es zu beweisen gilt, von der Partei bereits gültig behauptet und sind die Dokumente für den Beweis der Tatsache notwendig, so habe der Richter gemäss der Ansicht des Bundesgerichts die Pflicht, diese Dokumente einzuverlangen. Der Beschwerdeführerin wurde damit nicht angelastet, dass sie nicht regelmässig eine aktualisierte Bewertung der Wertschriftenkonten einreichte.

4. FAZIT

Auf prozessrechtlicher Ebene obliegt es grundsätzlich weiterhin den Parteien, die konkreten Vermögenswerte der Errungenschaft zu behaupten und zu beweisen. Gemäss vorliegendem Entscheid des Bundesgerichts kann den Parteien allerdings nicht mehr angelastet werden, nicht regelmässig eine aktualisierte Bewertung der genügend behaupteten Wertschriften bei Gericht einzureichen. Es liegt vielmehr in der Kompetenz des Gerichts, die notwendigen Belege für eine aktuelle Bewertung der Wertschriften einzuverlangen. Insbesondere bei längeren Scheidungsprozessen führt diese aufgeweichte Handhabung der Verhandlungsmaxime sowohl für die Parteien wie auch ihre Rechtsvertreter zu einer erheblichen Vereinfachung in der Prozessführung.