DIE (RECHTLICHEN) AUSWIRKUNGEN DES CORONAVIRUS – EIN ÜBERBLICK

Die Ausbreitung des Coronavirus (COVID-19) stellt unsere Gesellschaft und Wirtschaft vor enorme Herausforderungen und führt unter anderem zu grosser rechtlicher Verunsicherung. Der vorliegende Newsletter soll eine Übersicht zu den Auswirkungen des COVID-19 auf verschiedene Rechtsgebiete verschaffen.

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I. ARBEITSRECHT

Was können und müssen Arbeitgeber konkret tun, um ihre Mitarbeitenden zu schützen?

Arbeitgeber haben dafür zu sorgen, dass sie die Empfehlungen des Bundes (soziale Distanz und Hygiene) am Arbeitsplatz umsetzen können. Dazu gehören beispielsweise die Zurverfügungstellung von ausreichend Flüssigseife und Einwegtüchern für das Händewaschen und die regelmässige Reinigung von Kontaktoberflächen wie Türgriffen an Aussentüren und bei den sanitären Einrichtungen.

Besonders gefährdeten Personen, das heisst Personen ab 65 Jahren und jene, die eine Vorerkrankung aufweisen, muss der Arbeitgeber ermöglichen und gestatten, ihre Arbeit von zu Hause aus zu erledigen (Homeoffice). Kann die Arbeit nur vor Ort erbracht werden, muss der Arbeitgeber sicherstellen, dass die empfohlenen Hygiene- und Verhaltensmassnahmen (Abstand halten, Hände waschen etc.) eingehalten werden können. Er kann ihnen auch in Abweichung vom Arbeitsvertrag bei gleicher Entlohnung eine gleichwertige Ersatzarbeit zuweisen, sofern die Massnahmen umgesetzt werden können. Ist auch dies nicht möglich, so stellt der Arbeitgeber besonders gefährdete Personen unter Lohnfortzahlung frei (Art. 10c Abs. 7 COVID-19-Verordnung 2).

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Darf der Arbeitgeber kurzfristig Zwangsferien oder die Kompensation von Überstunden anordnen?

Der Arbeitgeber darf grundsätzlich den Zeitpunkt der Ferien bestimmen, wenn vertraglich nichts anderes vereinbart wurde. Er hat dabei auf die Wünsche und Bedürfnisse des Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen. Damit der Arbeitnehmer seine Ferien organisieren kann, muss der Arbeitgeber die Zwangsferien mindestens drei Monate im Voraus ankündigen. Es ist davon auszugehen, dass auch in der aktuellen Zeit diese Frist von drei Monaten gilt.

Wenn der Arbeitsanfall aufgrund der
aktuellen Situation derart stark zurückgeht, dass nicht mehr alle
Mitarbeitenden voll beschäftigt werden können, darf der Arbeitgeber
Zwangsferien anordnen, die vom Ferienguthaben abgezogen werden können.
Vereinzelt wird die Meinung vertreten, dass in diesem Fall eine kürzere
Ankündigungsfrist zulässig ist. Hier ist allerdings Vorsicht geboten, da diese
Frage noch von keinem Gericht beantwortet worden ist. Angesichts der aktuellen
Lage wird von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gegenseitiges
Entgegenkommen erforderlich sein, um die Situation gemeinsam und pragmatisch zu
meistern sowie auch um Entlassungen vermeiden zu können. Dem Arbeitgeber wird
empfohlen, mit den Mitarbeitenden das Gespräch zu suchen. Diese sind allenfalls
zu kurzfristigem Ferienbezug bereit.

Der Bezug von
Überstunden darf auch kurzfristig angeordnet werden, sofern der Arbeitnehmer
dem zustimmt. Oft ist diese Zustimmung im Arbeitsvertrag schon enthalten.

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Haben Eltern, die ihre Kinder zu Hause betreuen und ihre Arbeit deswegen unterbrechen müssen, Anspruch auf Lohnfortzahlung und/oder eine Erwerbsersatzentschädigung?

Aufgrund der Schliessung der Schulen
und Kindergärten sind viele Kinder zu Hause und werden von den Eltern
persönlich betreut. Wenn die Eltern ihre Arbeit im Homeoffice erledigen können,
muss der Arbeitgeber den Lohn weiterhin bezahlen. Dies gilt auch dann, wenn die Arbeitsleistung
mit den Kindern zu Hause etwas eingeschränkt sein sollte.

Für den Fall, dass die Eltern aufgrund der Betreuung (ihrer
Kinder unter 12 Jahren) die Arbeit unterbrechen müssen und keine Fremdbetreuung
sichergestellt werden kann, sieht die COVID-19-Verordnung
Erwerbsausfall einen Anspruch auf Entschädigung vor. Die Eltern müssen dafür
zum Zeitpunkt des Erwerbsunterbruchs obligatorisch bei der AHV versichert sein
und einer unselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit nachgehen (Art. 2
Abs. 1bis COVID-19-Verordnung Erwerbsausfall). Der Bedarf an persönlicher
Kinderbetreuung muss zudem im Zusammenhang mit einer Massnahme zur Bekämpfung
des Coronavirus stehen. Dies ist dann der Fall, wenn die Kinder aufgrund der
Schulschliessung zu Hause sind oder die übliche Betreuung einer durch das Virus
besonders gefährdeten Person (z.B. Grosseltern) derzeit nicht in Frage kommt.

Die Entschädigung kann ab dem 4. Tag,
an dem die obigen Voraussetzungen erfüllt sind, verlangt werden und endet,
sobald eine Betreuungslösung gefunden wurde oder die Massnahmen zur Bekämpfung
des Coronavirus aufgehoben werden (Art. 3 Abs. 1 und 3 COVID-19-Verordnung
Erwerbsausfall). Für Selbständigerwerbende endet der Anspruch nach Ausrichtung
von 30 Taggeldern (Art. 3 Abs. 4 COVID-19-Verordnung Erwerbsausfall). Kein
Anspruch auf Entschädigung besteht während den gesetzlichen Schulferien.

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Was genau ist Kurzarbeit und wann besteht Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung?

Als Kurzarbeit wird die vorübergehende Reduzierung (mind. 10%) oder die vollständige Einstellung der Arbeit in einem Betrieb bezeichnet. Um den damit verbundenen Lohnausfall abzufedern und Kündigungen zu vermeiden, können Arbeitgeber für ihre Mitarbeitenden eine Kurzarbeitsentschädigung geltend machen. Das Unternehmen kann, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, die Kurzarbeit beim zuständigen Amt (z.B. in den Kantonen Aargau und Zürich: Amt für Wirtschaft und Arbeit) anmelden. Vorausgesetzt wird unter anderem, dass der Mitarbeitende in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis ist und mit der Kurzarbeit einverstanden ist. Neu kann die Kurzarbeitsentschädigung auch für Angestellte in befristeten Arbeitsverhältnissen und für Personen im Dienste einer Organisation für Temporärarbeit ausgerichtet werden.

Für das Pensum, das der Arbeitnehmer noch
leistet, erhält er wie gewohnt den Lohn vom Arbeitgeber. Wenn die gesetzlichen
Voraussetzungen erfüllt sind, bezahlt die Arbeitslosenkasse 80% des
Verdienstausfalls. Diese 80% muss zunächst der Arbeitgeber bezahlen; der Betrag
kann der Arbeitgeber ab dem 1. Tag des Folgemonats bei der Arbeitslosenkasse
zurückfordern. Achtung: Die Sozialversicherungsbeträge müssen ungekürzt
weiterbezahlt werden.

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Welche Ansprüche haben Selbständigerwerbende?

Eine selbständigerwerbende Person hat keinen Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung. Falls sie allerdings aufgrund einer bundesrechtlich angeordneten Betriebsschliessung oder des Veranstaltungsverbots einen Erwerbsausfall erleidet, besteht ab dem Tag, an dem alle Voraussetzungen erfüllt sind, ein Anspruch auf Erwerbsausfallentschädigung (Art. 2 Abs. 3 COVID-19-Verordnung Erwerbsausfall). Die Entschädigung muss bei der Ausgleichskasse, bei der der Selbständigerwerbende seine Sozialversicherungsbeiträge leistet, beantragt werden. Der Anspruch endet, sobald der Bund die Massnahmen (Betriebsschliessung/Veranstaltungsverbot) aufgehoben hat.

Die Entschädigung beträgt 80% des durchschnittlichen Erwerbseinkommens, das vor Beginn des Anspruchs auf Entschädigung erzielt wurde, höchstens aber CHF 196.00 pro Tag (Art. 5 COVID-19-Verordnung Erwerbsausfall).

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II. MIETRECHT UND STOCKWERKEIGENTUM

Dürfen Mieter von Geschäftsräumen eine Reduktion des Mietzinses beantragen? Dürfen sie ausserordentlich kündigen? Darf ein Mieter dem Vermieter das Zutrittsrecht zur Wohnung verweigern? Welche Schutzmassnahmen sind im Zusammenhang mit der Benutzung von gemeinsamen Räumen zu treffen? Die Antworten auf Ihre Fragen finden Sie in unserem separaten Newsletter zum Mietrecht vom 20. März 2020.

Was passiert mit den Stockwerkeigentumsversammlungen während der Coronakrise? Informationen dazu finden Sie in unserem zweiten separaten Newsletter vom 20. März 2020 zum Thema Stockwerkeigentum.

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III. ALLGEMEINES VERTRAGSRECHT

Generell gilt, dass Verträge trotz der aktuellen Situation bestehen bleiben, d.h. die vertraglichen Pflichten zu erfüllen sind. Aufgrund der behördlichen Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus ist es jedoch in vielen Branchen schwierig oder gar unmöglich, den Vertrag (rechtzeitig) zu erfüllen. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, wer die Folgen von verspäteten oder gar nicht erbrachten Leistungen (sog. Leistungsstörungen) zu tragen hat.

Massgebend ist in erster Linie der individuell
abgeschlossene Vertrag, wobei zu prüfen ist, ob dieser eine Regelung bezüglich
Leistungsstörungen bei unvorhergesehenen und ungewöhnlichen Ereignissen,
worunter der Coronavirus fallen dürfte, enthält. Ist dies nicht der Fall,
gelten die gesetzlichen Vorschriften (Obligationenrecht). Nach diesen gilt
Folgendes:

a) Bei einer nach Vertragsschluss entstandenen Leistungsunmöglichkeit wird der Schuldner von seiner Leistungspflicht befreit, sofern ihn für die Leistungsunmöglichkeit kein Verschulden trifft (Art. 119 Abs. 1 OR). Ob dieses Erfordernis in der aktuellen COVID-19-Pandemie erfüllt ist, muss jeweils im Einzelfall beurteilt werden. Ist dem Schuldner kein Verschulden vorzuwerfen, hat er nur die allenfalls bereits erhaltenen Leistungen zurückzuerstatten. Der Gläubiger kann zudem herausverlangen, was der Schuldner als Ersatzleistung von einem Dritten infolge der Unmöglichkeit erhalten hat (z.B. eine Versicherungsleistung).

b) Verändern sich die Verhältnisse oder Umstände nach dem Vertragsabschluss und führen zu einem erheblichen Missverhältnis der vereinbarten Leistungen, kommt eine (richterliche) Vertragsanpassung anhand des im Schweizer Recht geltenden Grundsatzes der clausula rebussic stantibus in Frage. Da die Voraussetzungen einer solchen richterlichen Anpassung hoch angesetzt sind, ist den Vertragsparteien zu empfehlen, eine einvernehmliche, individuelle Lösung zu suchen.

c) Bei Verzögerungen gelten die Bestimmungen nach Art. 102 ff. OR. Danach stehen dem Gläubiger verschiedene Handlungsoptionen sowie unter Umständen Anspruch auf Schadenersatz zu. Ein Schadenersatzanspruch setzt aber voraus, dass den Schuldner an der Verzögerung der Leistungserbringung ein Verschulden trifft. Der Schuldner muss also nachweisen, dass er trotz allen zumutbaren Bemühungen seine Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte, damit er nicht schadenersatzpflichtig wird.

Nachfolgend werden die Auswirkungen des Coronavirus auf einige ausgewählte Vertragstypen aufgezeigt.

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A. KAUF- UND LIEFERVERTRAG

Welche Möglichkeiten habe ich, wenn ein Lieferant aufgrund der jetzigen Situation Ware nicht liefern kann?

Zunächst ist zu prüfen, ob der abgeschlossene Vertrag eine Regelung für die Folgen eines unvorhergesehenen und ungewöhnlichen Ereignisses enthält. Falls dies nicht der Fall ist und der Verkäufer die Ware unverschuldet auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht liefern kann, erlöscht die Forderung auf Lieferung der Ware. Sofern der Käufer den Kaufpreis aber bereits bezahlt hat, kann er diesen vom Lieferanten zurückverlangen.

Kann der Verkäufer
die Ware lediglich zum jetzigen Zeitpunkt nicht liefern und ist noch kein
bestimmter Liefertermin vereinbart, so hat der Käufer den Verkäufer
grundsätzlich zunächst zu mahnen und ihm eine angemessene Nachfrist zur
Lieferung der Ware anzusetzen. Liefert der Verkäufer bis zum Ablauf dieser
Frist nicht, so kann der Käufer an der Lieferung festhalten oder darauf
verzichten. Sofern den Verkäufer am Verzug ein Verschulden trifft, was in der
jetzigen Situation jedoch selten der Fall sein dürfte, hat der Käufer zudem
Anspruch auf Ersatz des aus dem Verzug entstandenen Schadens. Verzichtet der
Käufer auf die nachträgliche Lieferung, kann er den allenfalls bereits
bezahlten Kaufpreis zurückverlangen. Im kaufmännischen Verkehr ist zu beachten,
dass angenommen wird, der Käufer verzichte auf die nachträgliche Lieferung.
Sofern der Käufer im kaufmännischen Verkehr also an der Lieferung festhalten
möchte, hat er dies unverzüglich dem Verkäufer mitzuteilen.

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Ich kann aufgrund
der Coronakrise meine geschäftliche Tätigkeit nicht mehr ausführen. Welche
Möglichkeiten habe ich bezüglich bereits bestellter Ware, die aufgrund der
Einstellung meiner geschäftlichen Tätigkeit für mich nutzlos ist?

Grundsätzlich gilt der abgeschlossene Liefervertrag bzw. Kaufvertrag weiterhin und ist entsprechend zu erfüllen. In Fällen, in denen die Coronakrise zu einem schweren Missverhältnis führt, ist allerdings eine gerichtliche Anpassung des Liefervertrags denkbar. Ein solches Missverhältnis könnte z.B. durchaus bei Dauerlieferverträgen angenommen werden, bei denen der Besteller aufgrund eines behördlichen Verbots seine geschäftliche Tätigkeit einstellen muss und infolgedessen die zu liefernde Ware für ihn nutzlos wird.

Allgemein gilt
aber, dass die Hürden für eine gerichtliche Vertragsanpassung sehr hoch sind.
Nicht zuletzt deshalb ist es wenn möglich vorzuziehen, sich mit dem Zulieferer
zu einigen und eine Vertragsanpassung ohne Zuzug des Gerichts zu erwirken.

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B. AUFTRAGSRECHT

Ich habe einen grossen Auftrag erhalten und im
Hinblick darauf bereits Investitionen getätigt. Nun wurde der Auftrag infolge des
Coronavirus zurückgenommen. Wer übernimmt die bei mir bereits angefallenen
Kosten?

Ein Auftrag kann grundsätzlich von jeder Partei jederzeit widerrufen oder gekündigt werden (Art. 404 Abs. 1 OR). Wird von diesem Recht Gebrauch gemacht und enthält der abgeschlossene Vertrag keine abweichende Regelung, sind diejenigen Auslagen und Verwendungen zu entschädigen, die bis dahin für die korrekte Ausführung des Auftrages erforderlich waren. Ist eine Vergütung vereinbart worden oder ist eine solche üblich, so ist darüber hinaus die bis zur Vertragsauflösung bereits erbrachte Arbeit des Beauftragten ebenfalls zu bezahlen. Hat der Auftraggeber schon mehr geleistet, als er bis zum Zeitpunkt der Vertragsauflösung schuldet, so kann dieser das Zuvielgeleistete herausverlangen. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Auftraggeber den Auftrag bspw. wegen eines behördlichen Verbots zurückziehen musste.

Ist die Auflösung des Auftragsverhältnisses zur Unzeit
erfolgt, sind zusätzlich daraus entstandene, besondere Nachteile zu ersetzen
(Art. 404 Abs. 2 OR; z.B., wenn andere Aufträge nachweisbar abgelehnt worden
sind). Eine Auflösung zur Unzeit liegt vor, wenn eine Kündigung ohne wichtigen
Grund in einem ungünstigen Moment ausgesprochen wird und der anderen Partei
besondere Nachteile verursacht. Ob diese Voraussetzungen in der aktuellen
Situation erfüllt sind, muss im Einzelfall geprüft werden.

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C. BAUWERKVERTRAG

Was
sind meine Möglichkeiten als Besteller, wenn der Hersteller ein Werk (z.B. ein
Bauwerk) aufgrund der
Krise nicht rechtzeitig abliefern bzw.
übergeben kann?

Befindet sich der Bauunternehmer mit der Fertigstellung eines Werks in Verzug, so hat ihm der Bauherr eine angemessene Nachfrist zur Fertigstellung des Bauwerks anzusetzen. Kann der Bauunternehmer das Werk auch innerhalb der Nachfrist nicht fertigstellen, so kann der Bauherr vom Vertrag zurücktreten und bei Verschulden des Bauunternehmers Ersatz für den daraus entstehenden Schaden verlangen. Den Bauunternehmer dürfte aber insbesondere etwa dann kein Verschulden treffen, wenn sich die Ablieferung des Werks aufgrund behördlicher Massnahmen verzögert (z.B., weil die Baustelle geschlossen werden musste oder nur in sehr reduziertem Umfang gearbeitet werden darf).

Der Bauherr muss im Übrigen nicht zwingend den Abgabetermin
verstreichen lassen, um wie oben beschrieben vorzugehen, wenn sich der Verzug
bereits vor dem Abgabetermin klar abzeichnet oder wenn der Bauunternehmer mit
der Herstellung des Werks nicht rechtzeitig beginnt.

Haben die Vertragsparteien die SIA-Norm 118 vereinbart, ist
ebenfalls ein möglicher Anspruch des Bauunternehmers auf Fristerstreckung zu
beachten, sofern die Parteien diesen nicht vertraglich ausgeschlossen haben.
Ein allfälliger Anspruch auf Fristerstreckung besteht jedoch nur, wenn sich die
Ausführung des Werks ohne Verschulden des Bauunternehmers verzögert,
insbesondere etwa wegen behördlicher Massnahmen. Erforderlich ist zudem, dass
der Bauunternehmer die Verzögerung und deren Ursache dem Bauherrn unverzüglich
schriftlich mitteilt. Hat der Bauunternehmer Anspruch auf Fristerstreckung, ist
überdies auch eine allfällig vereinbarte Konventionalstrafe für
Fristüberschreitungen nicht geschuldet.

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D. AUSWIRKUNGEN IN BEZUG AUF VERANSTALTUNGEN UND REISEN

Die Veranstaltung,
für welche ich ein Ticket bereits gekauft hatte, wurde abgesagt oder mein Flug
wurde annulliert – habe ich Anspruch auf Rückerstattung des Ticketpreises?

Mussten Veranstaltungen bzw. Flüge aufgrund behördlicher Anordnung abgesagt werden, so kann der Veranstalter bzw. die Fluggesellschaft ihre vertragliche Leistung nicht mehr erbringen, ohne dass ihn/sie dafür ein Verschulden trifft. Das Gesetz sieht in solchen Fällen vor, dass der Veranstalter bzw. die Fluggesellschaft die bereits empfangene Leistung (vorliegend die Bezahlung des Tickets) zurückzuerstatten hat. Durch vertragliche Vereinbarung können die Parteien von dieser Gesetzesbestimmung jedoch abweichen.

Nach dem Gesagten
ist es in erster Linie empfehlenswert, die zum Zeitpunkt des Ticketkaufs
akzeptierten allgemeinen Geschäfts- oder Vertragsbedingungen des Veranstalters,
der Fluggesellschaft oder allenfalls der benutzten Buchungsplattform
durchzulesen und zu prüfen, ob hinsichtlich der Kostentragung bei
unvorhergesehenen Ereignissen eine Vereinbarung besteht. Besteht eine solche
Vereinbarung und ist vorgesehen, dass der Veranstalter bzw. die
Fluggesellschaft den Ticketpreis nicht zurückerstatten muss, ist zu prüfen, ob
allenfalls eine Versicherung die Ticketkosten übernimmt. Derartige
Versicherungen werden z.B. häufig gleich beim Ticketkauf angeboten.

Bitte beachten Sie
aber, dass für den Fall, dass Sie aus Angst vor einer Ansteckung nicht mehr
fliegen oder eine stattfindende Veranstaltung nicht mehr besuchen wollen, vom
Veranstalter bzw. von der Fluggesellschaft (die ihre Leistungen vertragsgemäss
erfüllen) den Kaufpreis nicht zurückfordern können. Dafür tragen Sie als Kunde
die Preisgefahr.

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IV. GESELLSCHAFTSRECHT

Wann bzw. wie kann ein Überbrückungskredit für KMU beantragt werden?

Ein vom Coronavirus betroffenes Unternehmen kann seit dem 26. März 2020 einen Überbrückungskredit (am besten bei der eigenen Hausbank) beantragen. Der Kredit beträgt max. 10% des Jahresumsatzes und höchstens CHF 20 Mio. Die Kreditvergabe setzt voraus, dass das Unternehmen vor dem 1. März 2020 gegründet worden ist und sich nicht in einem Konkurs- oder Nachlassverfahren oder in Liquidation befindet. Weiter muss nachgewiesen werden, dass aufgrund der COVID-19-Pandemie erhebliche Umsatzeinbussen erlitten wurden oder solche zu erwarten sind. Schliesslich darf das Unternehmen nicht bereits Unterstützung gestützt auf die notrechtlichen Regelungen in den Bereichen Sport und Kultur erhalten haben (Art. 3 COVID-19-Solidarbürgschaftsverordnung).

Kredite bis zu CHF
500’000.00 werden relativ unbürokratisch und innert kurzer Frist zu einem
aktuellen Zins-satz von 0% gewährt und sind vom Bund zu 100% abgesichert. Für
höhere Kredite gewährt der Bund eine Solidarbürgschaft von 85%, womit die
Banken sich zu 15% beteiligen und daher eine umfassende Prüfung der Zahlungsfähigkeit
des Gesuchstellers erfolgt.

Aufgrund des Zweckes der Solidarbürgschaft sind gewisse Einschränkungen zu beachten. Mit dem Überbrückungskredit dürfen beispielweise keine neuen Investitionen ins Anlagevermögen getätigt werden, die nicht Ersatzinvestitionen sind. Weiter dürfen während der Dauer der Solidarbürgschaft keine Dividenden oder Tanti-emen ausgeschüttet und keine Kapitaleinlagen zurückerstattet werden.

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Können Generalversammlungen (GV) noch wie gewohnt durchgeführt werden?

Gemäss den aktuellen Massnahmen des Bundes sind private und öffentliche Veranstaltungen verboten. Aus diesem Grund kann eine GV derzeit nicht wie gewohnt stattfinden. Der Verwaltungsrat kann die Verschiebung der GV beschliessen und dies den Aktionären mitteilen. Als Notrecht hat der Bundesrat die vorübergehende Möglichkeit eingeführt, dass der Verwaltungsrat ungeachtet der voraussichtlichen Anzahl der Teilnehmenden und ohne Einhaltung der Einladungsfrist anordnen kann, dass die Aktionäre ihre Rechte auf schriftlichem Weg oder in elektronischer Form oder durch einen vom Veranstalter bezeichneten unabhängigen Stimmrechtsvertreter ausüben (Art. 6a COVID-19-Verordnung 2). Damit kann die GV ohne physische Anwesenheit der Aktionäre stattfinden. Weiterhin teilnehmen müssen allerdings ein Vorsitzender, ein Protokollführer, gegebenenfalls der unabhängige Stimmrechtsvertreter, gegebenenfalls ein Revisionsstellenvertreter sowie bei beurkundungspflichtigen Beschlüssen ein Notar. Bei der Durchführung dieser «Restversammlung» sind die Vorschriften des Bundesamtes für Gesundheit betreffend Hygiene und sozialer Distanz einzuhalten.

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Was gilt für die Durchführung der Gesellschafterversammlung einer GmbH, der GV einer Genossenschaft sowie für Vereinsversammlungen?

Die vom Bundesrat befristete Möglichkeit betreffend die Durchführung einer Generalversammlung im Aktienrecht nach Art. 6a COVID-19-Verordnung 2 gilt auch für die Versammlungen einer GmbH, einer Genossenschaft sowie für den Verein. Im Unterschied zur Aktiengesellschaft muss die Versammlung einer GmbH jedoch nicht physisch mit einer sogenannten «Restversammlung» abgehalten werden, da die Beschlüsse auch schriftlich gefasst werden können, sofern nicht ein Gesellschafter die mündliche Beratung verlangt. 

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V. PROZESSRECHT

Ich habe ein dringendes gerichtliches Anliegen. Wie beeinträchtigt die aktuelle Krise die Gerichte?

Aufgrund einer vom Bundesrat erlassenen Verordnung im Zusammenhang mit dem Coronavirus standen vom 21. März 2020 bis am 19. April 2020 viele Verfahren still und es fanden auch nahezu keine Verhandlungen statt. Seit dem 20. April 2020 kann der Gerichtsbetrieb jedoch wieder normal von statten gehen. Viele Kantone haben diesbezüglich jedoch individuelle Regelungen getroffen. So hat etwa der Kanton Aargau sämtliche nicht dringenden Verhandlungen auf einen späteren Zeitpunkt verschoben und angekündigt, dass selbst dringende Verhandlungen kurzfristig noch abgesagt werden können. Bei Fragen zu einem laufenden oder dringend einzuleitenden Verfahren empfiehlt es sich daher, vorab das jeweilige Gericht bzw. die jeweilige Schlichtungsbehörde zu kontaktieren.

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Einem Schuldner droht wegen den gegebenen Umständen die Zahlungsunfähigkeit. Wie kann ich sicherstellen, dass ich zu meinem Geld komme?

Bis zum 19. April 2020 war es in der ganzen Schweiz nicht möglich, Betreibungshandlungen vorzunehmen. Es konnten also z.B. keine Zahlungsbefehle oder Konkursandrohungen zugestellt und keine Pfändungen und Verwertungen von Vermögenswerten vollzogen werden. Seit dem 20. April 2020 können jedoch sämtliche Betreibungsverfahren wieder normal fortgesetzt werden.

Bei besonderer
Dringlichkeit – etwa, weil die Erfüllung einer Forderung wegen fehlenden
Wohnsitzes des Schuldners in der Schweiz in Gefahr ist oder weil der Schuldner
versuchen könnte, Vermögenswerte beiseite zu schaffen – kann der Gläubiger beim
zuständigen Gericht ein Arrestgesuch eingeben. Bei dessen Gutheissung können in
der Schweiz gelegene Vermögenswerte des Schuldners blockiert werden (z.B. ein
Bankkonto oder die Lohnforderung des Schuldners gegen seinen Arbeitgeber).
Sofern eine Betreibung bereits in Gange ist, kann der Gläubiger
Sicherungsmassnahmen auch direkt beim Beitreibungsamt beantragen.

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VI. STEUERRECHT

Wann muss die Steuererklärung 2019 eingereicht werden?

Die meisten Kantone haben die ordentliche Frist zur Einreichung der Steuererklärung 2019 automatisch um mindestens zwei Monate verschoben. Eine Fristenverlängerung darf ansonsten wie üblich beantragt werden. Im Kanton Aargau gilt insbesondere Folgendes:

  • Unselbständigerwerbende
    resp. Nichterwerbstätige sowie Rentnerinnen und Rentner dürfen ihre
    Steuererklärung bis zum 30. Juni 2020 einreichen;
  • Die
    Einreichungsfrist für selbständig erwerbende Personen, für Landwirte sowie für
    juristische Personen ist hingegen bis zum 30. September 2020 verlängert worden.

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Welche Zahlungserleichterungen gelten in Bezug auf die direkte Bundessteuer?

Bei verspäteter Zahlung der direkten Bundessteuer, die zwischen dem 1. März 2020 und dem 31. Dezember 2020 fällig wird, ist kein Verzugszins geschuldet. Diese entlastende Massnahme gilt sowohl für natürliche als auch für juristische Personen und ist nicht nur auf die Steuerforderungen der Steuerperiode 2020 begrenzt, sondern bezieht sich auf alle (provisorischen und definitiven) Steuerforderungen, die im genannten Zeitraum fällig werden. Das gleiche gilt in Bezug auf die verspätete Zahlung der Mehrwertsteuer, der besonderen Verbrauchssteuern, Lenkungsabgaben und Zollabgaben für die Zeit vom 20. März 2020 bis zum 31. Dezember 2020. Weiter ist auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass aufgrund der coronavirusbedingten Notstandssituation ein Gesuch um Erstreckung der Zahlungsfrist oder um Bewilligung einer Ratenzahlung eingereicht werden kann, das kulant behandelt werde (Art. 166 DBG bzw. Art. 90 MWSTG).

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Gilt dies auch in Bezug auf Kantons- und Gemeindesteuern?

Viele Kantone haben sich an die oben erwähnte bundesrechtliche Massnahme angeglichen, jeweils mit kleinen Anpassungen. Im Kanton Aargau ist für Kantons- und Gemeindesteuern (natürlicher und juristischer Personen), die im Zeitraum vom 1. März 2020 bis zum 31. Dezember 2020 fällig werden und die verspätet bezahlt werden, kein Verzugszins geschuldet. Darüber hinaus werden für fällige Steuerforderungen bis zum 30. Juni 2020 keine Mahnungen zugestellt und keine Betreibungen durchgeführt – faktisch wirkt sich dies wie eine Verlängerung der Zahlungsfristen aus. Weiter können steuerpflichtige natürliche und juristische Personen, die ihre Steuern nicht fristgerecht bezahlen können, ein Gesuch um Stundung oder Teilzahlung einreichen, die aufgrund der ausserordentlichen Situation wohlwollend behandelt werden dürften.

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Die provisorische Steuerrechnung 2020 ist zu hoch – kann ich sie anpassen?

Provisorische Steuerrechnungen basieren auf den im Vorjahr erzielten Einkünften; aktuelle wirtschaftliche Einbussen werden nicht berücksichtigt. Dies kann sich insbesondere für das Jahr 2020 in dem Sinne als problematisch erweisen, als die in Rechnung gestellten Steuerforderungen den Umständen entsprechend zu hoch sind. Für eine Anpassung der provisorischen Steuerrechnung sehen die meisten Kantonen vereinfachte Verfahren vor.

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Dürfen Unternehmen, die durch die bundesweit angeordnete Betriebsschliessung betroffen sind und/oder erhebliche Umsatzeinbussen erlitten haben, ausserordentliche Rückstellungen im Jahr 2019 bilden?

Einige Kantone (unter anderem der Kanton Aargau) haben unter bestimmten Voraussetzungen diese Frage positiv beantwortet. Weitere Informationen über die im Kanton Aargau hierfür geltenden Voraussetzungen finden Sie in der Weisung des kantonalen Steueramtes vom 6. April 2020 «Rückstellung im Jahresabschluss 2019 für Corona-Risiken».


22. April 2020 / Geissmann Rechtsanwälte AG  

unter
Mithilfe von MLaw Alessandro Alfano, MLaw Giada Cassis und MLaw Seraina Keller


BRANDING UND WAS ES AUS RECHTLICHER SICHT ZU BEACHTEN GILT

MLaw Simone Küng, Rechtsanwältin

MLaw Simone Küng, Rechtsanwältin bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

In der Entwicklung von Marken (sog. Branding) steckt viel Zeit, Innovation und in der Regel auch viel Geld. Schliess- ich ist die Marke das Aushängeschild des Unternehmens für deren Produkte und Dienstleistungen. Sie steht für Qualität und dient der Abgrenzung zur Konkurrenz. Bei der Registrierung einer Marke sollte man sich nicht zu viel Zeit lassen, denn es gilt das Motto «First come first served». Ist die Marke einmal eingetragen, hat der Inhaber das ausschliessliche Recht, Waren und Dienstleistungen mit seiner Marke zu kennzeichnen. Aus einer – aus marketingtechnischer Sicht – genialen Marke kann aber ohne Weiteres ein juristischer Dauerbrenner werden, wenn vorgängig keine sorgfältige Recherche durchgeführt wird und die wichtigsten markenrechtlichen Grundsätze unbeachtet bleiben.

I. KEIN BESCHREIBENDER INHALT

Um in der Schweiz Markenschutz zu erlangen, muss die gewählte Marke im schweizerischen Markenregister eingetragen werden. Es handelt sich also um ein Registerrecht. Die Anmeldung erfolgt über das Institut für Geistiges Eigentum (kurz IGE). Das IGE verweigert aber die Eintragung von Marken, die unmittelbar beschreibend sind. D.h. die Marke darf nicht direkt die Beschaffenheit, Qualität, Art oder den Herstellungsort der Produkte oder Dienstleistungen, die mit der Marke geschützt werden sollen, beinhalten (z.B. kann «Banane» nicht für Bananen oder Obst eingetragen werden). Zulässig wären solch beschreibende Angaben nur, wenn die Marke noch einen zweiten – einen nicht-beschreibenden – Bestandteil hat. Marken, die lediglich mittelbar beschreibende Angaben enthalten, können zwar eingetragen werden, aber auch hier gilt es Vorsicht walten zu lassen. Denn je eher die Marke beschreibend in Bezug auf die zu schützenden Produkte und Dienstleistungen ist, desto geringer ist deren Kennzeichnungskraft und damit deren Schutzumfang. Dies bedeutet, dass sich eine schwache Marke nicht im gleichen Umfang gegen eine ähnliche Marke wehren kann wie eine starke Marke, die beispielsweise aus einem reinen Fantasiewort besteht.

Darüber hinaus darf die Marke aber auch keine täuschenden Angaben über Eigenschaften (z.B. Qualität, Beschaffenheit oder Herkunft) der Ware oder Dienstleistung enthalten. So soll das Publikum vor Irreführungen geschützt werden. Beispielsweise darf das Schweizerkreuz zur Kennzeichnung von Waren und Dienstleistungen nur verwendet werden, wenn die betroffenen Waren oder Dienstleistungen auch tatsächlich aus der Schweiz stammen. Schlussendlich darf die Marke nicht gegen die öffentliche Ordnung, die guten Sitten oder gegen geltendes Recht verstossen. Praxisrelevant sind hier insbesondere religiöse Namen oder Symbole. Das Bundesgericht entschied, dass das Zeichen «Madonna» nicht in das schweizerische Markenregister eingetragen werden darf, weil es die religiösen Gefühle verletzen könne und damit sittenwidrig sei (BGE 136 III 474).

II. VORGÄNGIGE RECHERCHE

Bevor man eine Marke beim IGE zur Registrierung anmeldet, sollte eine gründliche Markenrecherche durchgeführt werden. Die Recherche sollte zumindest die Überprüfung von identischen oder ähnlichen Marken, Domain- und Firmennamen beinhalten. Unterlässt man eine ausgiebige Recherche, so kann dies später zu Konflikten mit ande- ren Kennzeichen führen. Denn Schutz geniesst stets der Inhaber älterer Rechte. Dabei genügt es nicht, lediglich das schweizerische Markenregister zu durchforsten, zumal eine Marke als Internationale Marke eingetragen und über eine Schutzausdehnung auch in der Schweiz Schutz erlangen kann. Solche sog. IR-Marken sind im schwei- zerischen Markenregister i.d.R. nicht ersichtlich. Darüber hinaus sollte man sich von Beginn an überlegen, ob die Marke lediglich in der Schweiz oder auch im Ausland geschützt werden soll. Entsprechend wären vorgängig auch ausländische Register auf verwechselbare Zeichen zu überprüfen.

Zu beachten gilt es zudem, dass das IGE bei der Markeneintragung nicht prüft, ob allenfalls eine Verwechslungs- gefahr mit einer anderen – bereits eingetragenen – Marke (geschweige dann mit anderen Schutzrechten) besteht. So kann es durchaus sein, dass im Markenregister zwei identische Marken eingetragen sind. Nur weil die Marke eingetragen wird, bedeutet dies also nicht, dass keine anderen Schutzrechte verletzt werden. Es liegt jeweils am Inhaber der älteren Schutzrechte, seine Prioritätsansprüche gegen jüngere Marken geltend zu machen und durch- zusetzen.

III. WAREN- UND DIENSTLEISTUNGSVERZEICHNIS

Bevor die Marke im schweizerischen Markenregister eingetragen werden kann, muss ein sogenanntes «Waren- und Dienstleistungsverzeichnis» erstellt werden. Darin sind die Waren und / oder Dienstleistungen zu bezeichnen, für welche unter der einzutragenden Marke Schutz erlangt werden soll. Hierbei können allerdings nicht wahllos Begriffe aufgezählt werden, sondern die Eintragung erfolgt nach der sogenannten «Nizza-Klassifikation». Diese sieht unterschiedliche Klassen zur Einteilung sämtlicher Waren und Dienstleistungen vor. Der Minimalist mag nun versucht sein, lediglich eine oder mehrere ganze Klassifikationsgruppen zu nennen, in welcher sich die gewünschten Waren und / oder Dienstleistungen befinden. Dies genügt aber den Anforderungen des IGE nicht. Vielmehr sind die Waren und Dienstleistungen nicht nur der richtigen Klasse zuzuordnen, sondern auch präzise zu bezeichnen (die Angabe «sämtliche Waren / Dienstleistungen dieser Klasse» genügt also nicht).

Ist die Marke einmal eingetragen, kann das Waren- und Dienstleistungsverzeichnis nicht einfach weiter ausgedehnt werden (wenn man z.B. seine Produktpalette weiter ausbauen möchte), sondern die Marke müsste erneut – mit einem erweiterten Waren- und Dienstleistungsverzeichnis – zur Eintragung angemeldet werden – selbstverständlich unter erneuter Gebührenauferlegung durch das IGE. Die zukünftige Entwicklung des Unternehmens und dessen Marktausrichtung ist also bereits bei der Markeneintragung zu berücksichtigen. Aber auch ein von Beginn weg sehr breit aufgestelltes Waren- und Dienstleistungsverzeichnis birgt seine Tücken: Je umfassender das Verzeichnis gefasst ist, desto eher besteht die Gefahr, dass ein anderer Markeninhaber mit einer älteren ähnlichen Marke für dieselben Waren und / oder Dienstleistungen Schutz beansprucht hat und damit entsteht das Risiko eines Angriffs durch den Inhaber dieser älteren Marke. Darüber hinaus steigen auch die Gebühren für die Markenhinterlegung (drei Waren- und Dienstleistungsklassen sind in der Grundgebühr von derzeit CHF 550.00 für die Hinterlegung enthalten; jede weitere Klasse kostet den Anmelder CHF 100.00). Hingegen ist eine Einschränkung des Waren- und Dienstleistungsverzeichnisses nach erfolgter Eintragung der Marke jederzeit möglich.

Die Erstellung eines Waren- und Dienstleistungsverzeichnisses mag sich also vorerst banal anhören, längerfristig betrachtet ist es aber Ausfluss einer durchdachten Markenstrategie, bei welcher insbesondere auch zukünftige Entwicklungen der eigenen Marke zu berücksichtigen sind.

IV. VERWECHSLUNGSGEFAHR

Ist die Marke einmal eingetragen, kann sich der Markeninhaber – schweizweit – gegen ähnliche oder identische Zeichen für gleiche oder gleichartige Waren und Dienstleistungen zur Wehr setzen und deren Gebrauch verbieten, sofern für die relevanten Verkehrskreise eine Verwechslungsgefahr besteht. Es wird zwischen unmittelbarer und mittelbarer Verwechslungsgefahr unterschieden. Von mittelbarer Verwechselbarkeit spricht man, wenn der betroffene Verkehrskreis die Zeichen zwar unterscheiden kann, aber aufgrund der Ähnlichkeit der Zeichen der Eindruck entsteht, dass zwischen den betroffenen Unternehmen eine Verbindung besteht (bspw. carpe diem / carpe noctem). Eine unmittelbare Verwechselbarkeit liegt vor, wenn die kollidierenden Zeichen für die Abnehmer der betroffenen Waren und Dienstleistungen schlichtweg kaum zu unterscheiden sind.

Einleitend wurde bereits ausgeführt, dass je eher die Marke beschreibend in Bezug auf die zu schützenden Produkte und Dienstleistungen ist, desto geringer deren Kennzeichenkraft ist und damit deren Schutzumfang. Und im Umkehrschluss: Je origineller und je bekannter eine Marke ist, desto eher wird eine Verletzung anderer Markenrechte angenommen. Um sich vor Angriffen Dritter zu schützen, lohnt es sich also, eine möglichst originelle und insbesondere nicht beschreibende Marke zu kreieren.

V. GRENZEN DES MARKENSCHUTZES

Wird die Marke im schweizerischen Markenregister eingetragen, so ist sie vom Anmeldedatum an für zehn Jahre geschützt. Die Eintragung kann beliebig oft um weitere zehn Jahre verlängert werden. Zu bedenken ist, dass die Marke – sobald sie einmal eingetragen ist – nicht mehr abgeändert werden kann. Demzufolge muss man sich vorgängig gut überlegen, ob in der einzutragenden Marke tatsächlich Slogans, Hinweise auf ein Jubiläum oder andere kurzweilige Hinweise integriert werden sollen. Dabei gilt es nicht ausser Acht zu lassen, dass die Marke nach den ersten fünf Jahren, nachdem sie in das Markenregister eingetragen worden ist, auch in dieser Form für die eingetragenen Waren und Dienstleistungen benutzt werden muss. D.h., die Marke muss im Wesentlichen genau so gewerblich genutzt werden, wie sie auch eingetragen ist. Wird sie es nicht, so kann ein Dritter beim IGE oder beim zuständigen Zivilgericht die Löschung der Marke verlangen. Darüber hinaus geniesst die Marke selbstverständlich nur für diejenigen Waren und Dienstleistungen Schutz, für welche sie auch registriert worden ist (einzige Ausnahme bilden hier die sog. «berühmten Marken» wie bspw. Coca-Cola oder Nike).

Nach dem Territorialitätsprinzip ist eine Schweizer Marke nur innerhalb der Schweiz geschützt. Soll sie auch im Ausland Schutz erlangen, ist deren Schutz auf die anderen Länder auszudehnen. Hierfür stehen dem Markenanmelder mehrere Wege offen, welche vorgängig mit einem Markenberater besprochen werden sollten. Jede Strategie hat seine Vor- und Nachteile.

Eine Marke kann inzwischen bequem von zu Hause aus online angemeldet werden. Hierzu braucht es keinen Spezialisten. Um eine Marke längerfristig und erfolgreich etablieren zu können, gilt es hingegen bereits in der Vor- bereitung zur Markenanmeldung diverse Fragen und Besonderheiten zu klären, wobei sich die Konsultation eines Markenberaters empfiehlt.

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5. Juni 2019 / MLaw Simone Küng


NEUER SCHUTZ VOR UNGERECHTFERTIGTEN BETREIBUNGEN

MLaw Simone Küng, Rechtsanwältin

MLaw Simone Küng, Rechtsanwältin bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Jede Person, die ein Interesse glaubhaft macht, kann Einsicht in den Betreibungsregisterauszug einer anderen Person nehmen (Art. 8a Abs. 1 des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs [SchKG]). Jede eingeleitete Betreibung wird im Betreibungsregister eingetragen und ist während fünf Jahren auch für Drittpersonen sichtbar (Art. 8 Abs. 4 SchKG). Dies selbst dann, wenn die Betreibung ungerechtfertigt erfolgt ist. Es ist eine Besonderheit des schweizerischen Vollstreckungsrechts, dass eine Betreibung auch dann eingeleitet werden kann, wenn der Gläubiger keinen Nachweis über den Bestand der geltend gemachten Forderung erbringen kann. Wer einmal im Betreibungsregister eingetragen wurde, kommt aber nur schwer wieder raus. Die auf den 1. Januar 2019 neu in Kraft gesetzte Bestimmung soll nun Schuldner, die ungerechtfertigt betrieben worden sind, besser schützen.

I. EINLEITUNG

In der Schweiz ist es relativ einfach (und günstig), ein Betreibungsverfahren einzuleiten. Dem Betreibungsamt muss kein Beweis für die (vermeintliche) Forderung vorgelegt werden. Das Betreibungsamt wäre auch gar nicht dazu berechtigt, materiell über die geltend gemachte Forderung zu entscheiden. Es prüft lediglich die formellen Voraussetzungen. Sind diese erfüllt, muss es den Zahlungsbefehl zustellen und die Betreibung im Register eintragen, was für die betroffene Person negative Folgen haben kann.

Bisher konnte sich der Schuldner kaum gegen ungerechtfertigte Betreibungsregistereinträge wehren. Er kann das Betreibungsverfahren zwar mit der Erhebung des Rechtsvorschlags stoppen, der Eintrag im Register erlöscht damit aber nicht. Vielmehr hatte er bis anhin nur die Möglichkeit, entweder fünf Jahre abzuwarten, bis der Eintrag automatisch aus dem Register verschwindet (sofern keine Verlustscheine vermerkt sind; Art. 8 Abs. 4 SchKG), auf einen Rückzug der Betreibung durch den Gläubiger zu hoffen oder vor Gericht auf den Nichtbestand der Forderung zu klagen (sog. Aberkennungsklage), was mit hohen Gerichtskosten verbunden sein kann.

Der Gesetzgeber hat nun reagiert und auf Vorstoss einer parlamentarischen Initiative (09.530) eine entsprechende Änderung des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs per 1. Januar 2019 in Kraft gesetzt.

II. ÄNDERUNG DER GESETZGEBUNG

Die neu eingeführte Bestimmung ist in Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG verankert. Sie legt fest, dass das Betreibungsamt Dritten keine Kenntnis von einer Betreibung mehr gibt, wenn nach Ablauf einer Frist von drei Monaten seit der Zustellung des Zahlungsbefehls ein entsprechendes Gesuch des Schuldners vorliegt (Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG) und der Gläubiger nach Ablauf einer vom Betreibungsamt angesetzten Frist von 20 Tagen nicht nachweist, dass rechtzeitig ein Verfahren zur Beseitigung des Rechtsvorschlags (Art. 79-84 SchKG) eingeleitet wurde. Voraussetzung ist aber, dass der Schuldner gegen die eingeleitete Betreibung rechtzeitig Rechtsvorschlag erhoben hat (innert 10 Tagen seit Zustellung des Zahlungsbefehls, Art. 74 Abs. 1 SchKG). Gelingt der Nachweis nicht, wird der Betreibungsregistereintrag Dritten gegenüber verborgen. Reicht der Gläubiger aber zu einem späteren Zeitpunkt ein Gesuch um Beseitigung des Rechtsvorschlages (sog. Rechtsöffnung) oder eine Klage beim Gericht (sog. Anerken- nungsklage) ein, so wird die betreffende Betreibung Dritten wieder zur Kenntnis gebracht. Ist der Schuldner also der Ansicht, er sei ungerechtfertigt betrieben worden und möchte er nicht, dass die Betreibung gegenüber Drittpersonen angezeigt wird, so hat er wie folgt vorzugehen:

  • Der Schuldner muss innert 10 Tagen seit Zustellung des Zahlungsbefehls Rechtsvorschlag erheben (Art. 74 Abs. 1 SchKG).
  • Frühestens drei Monate nach Zustellung des Zahlungsbefehls kann der Schuldner beim zuständigen Betreibungsamt ein Gesuch stellen, dass die betreffende Betreibung Dritten nicht mehr angezeigt wird. Dies ist allerdings nur möglich, wenn der Gläubiger inzwischen kein Rechtsöffnungsverfahren oder eine sog. Anerkennungsklage eingeleitet hat.
  • Hat das Betreibungsamt keine Kenntnis darüber, ob die Betreibung durch den Gläubiger fortgesetzt wurde, so fordert es den Gläubiger auf, zum Gesuch Stellung zu nehmen und innert 20 Tagen den Nachweis zu erbringen, dass entweder ein Rechtsöffnungsverfahren oder eine sog. Anerkennungsklage eingeleitet wurde.
  • Erbringt der Gläubiger den erforderlichen Nachweis nicht, so gibt das Betreibungsamt dem Gesuch des Schuldners statt und die betreffende Betreibung wird Dritten nicht mehr zur Kenntnis gebracht. Die Kosten des Gesuchs (pauschal CHF 40.00) gehen aber dennoch zulasten des Schuldners.
  • Kann der Gläubiger den Nachweis, dass das Betreibungsverfahren vorangetrieben wurde, erst nachträglich erbringen, so wird der Betreibungsregistereintrag für Drittpersonen gleichwohl wieder sichtbar.

Um die Formalitäten zu erleichtern, stellen die Betreibungsämter offizielle Formulare zur Verfügung, die verwendet werden können (im Kanton AG bspw. unter http://www.betreibungsamt-ag.ch/v4/index.php/downloads/formulare abrufbar). Das Gesuch ist an das Betreibungsamt zu richten, bei welchem die beanstandete Betreibung eingereicht worden ist.

III. KOSTEN

Die Gebühr für ein Gesuch nach Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG beträgt pauschal CHF 40.00 und umfasst damit auch allfällige Auslagen des Betreibungsamtes. Sie ist unabhängig von der Gutheissung oder Abweisung des Gesuchs zu bezahlen (Art. 12b Gebührenverordnung [GebV] SchKG) und wird nicht zu den Betreibungskosten hinzugerechnet.

IV. INKRAFTTRETEN UND ÜBERGANGSVORSCHRIFTEN

Die neue Gesetzesbestimmung ist per 1. Januar 2019 in Kraft getreten. Schuldner, die vor dem 1. Januar 2019 betrieben worden sind, können aber ebenfalls ein Gesuch i.S.v. Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG stellen – es spielt keine Rolle, wann die Betreibung eingeleitet worden ist. Zu beachten sind aber stets die vorgesehenen Fristen (Rechtsvorschlag innert 10 Tagen und die Zustellung des Zahlungsbefehls liegt bereits drei Monate zurück).

V. FAZIT

Die vom Gesetzgeber neu geschaffene Lösung ist zu begrüssen. Zu Unrecht Betriebene können nun – nach Begleichung einer geringen Pauschalgebühr von CHF 40.00 – verlangen, dass eine Betreibung nicht mehr auf ihrem Betreibungsregister-Auszug erscheint. Insbesondere für Betroffene, die aus reiner Schikane betrieben worden sind, dürfte die neue Bestimmung im Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz von Vorteil sein.

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14. Februar 2019 / MLaw Simone Küng, Rechtsanwältin


NATURKATASTROPHE – WER ÜBERNIMMT MEINE REISEKOSTEN?

Lic. iur. Patricia Geissmann, Rechtsanwältin unter Mithilfe von Simone Küng (MLaw)

lic. iur. Patricia Geissmann, Rechtsanwältin mit CAS M&A and Corporate Law bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Vor wenigen Wochen tobte in der Karibik einer der stärksten jemals gemessenen Hurrikans und verwüstete unter anderem die Inseln Barbuda, Saint-Barthélemy, St. Martin und Kuba. Im Juli dieses Jahres wurden zudem die griechische Insel Kos und die türkische Stadt Bodrum durch ein Erdbeben der Stärke 6.7 heimgesucht. Betrifft die Naturkatastrophe das gebuchte Reiseziel, fühlen sich viele Reisende verunsichert und überlegen, von ihrer geplanten Reise zurückzutreten. Doch die Rückerstattung von bereits geleisteten Anzahlungen an die Reisekosten ist in solchen Fällen nur bedingt möglich. Ausschlaggebend ist auch hier – wie so oft – das Kleingedruckte.

I. AUSGANGSLAGE

Grundsätzlich gilt, dass im Fall eines sogenannten Elementarereignisses, wie Naturkatastrophen im Rechtsgebrauch bezeichnet werden, weder die Fluggesellschaft noch der Reiseveranstalter für einen allfällig entstandenen Schaden der Touristen einstehen müssen. In den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der betreffenden Rei- severanstalter wird dabei oftmals von „höherer Gewalt“ gesprochen. Auch Basis-Reiseversicherungen schliessen Schäden durch Elementarereignisse wie Erdbeben, Hurrikans, Vulkanausbrüche oftmals pauschal von einer Versicherungsdeckung aus. Eine Konsultation der Versicherungspolice bzw. der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) ist damit unumgänglich. Denn solche Haftungsbeschränkungen sind gültig, weshalb Reisende im Fall einer Naturkatastrophe oftmals auf ihren Kosten sitzen bleiben.

Bei Reiseleistungen muss jedoch zwischen Einzelbuchungen (wie beispielsweise nur die Buchung eines Flugs oder einer Unterkunft) und Pauschalreisen unterschieden werden.

II. EINZELBUCHUNGEN

Handelt es sich um eine Einzelbuchung, kommen grundsätzlich die allgemeinen Bestimmungen des Obligationenrechts zur Anwendung. Kann die Reiseleistung infolge einer Naturkatastrophe nicht mehr angetreten werden, spricht man von einer „nachträglich unverschuldeten Unmöglichkeit“ der Leistungserbringung. In diesen Fällen entfällt die Pflicht des Reisedienstleisters, die gebuchte Leistung zu erbringen sowie die Kosten für allfällig daraus entstandene Schäden zu ersetzen – und zwar unabhängig davon, ob dies in den AGB festgehalten wurde oder nicht. Der Reisende kann jedoch die bereits im Voraus bezahlten Kosten auf dem Wege der ungerechtfertigten Bereicherung zurückfordern. Grundsätzlich besteht also die Möglichkeit, zumindest seine Anzahlungen an die Reise wieder zurückzuerhalten. Sofern der Reisende noch keine Anzahlung geleistet hat oder weitere Reisekosten ausstehen würden, ist er nicht mehr zu deren Leistung verpflichtet. Hingegen wälzen die Reisedienstanbieter das Risiko für den Fall, dass sie die gebuchten Leistungen aufgrund einer Naturkatastrophe nicht erbringen können, oftmals vollumfänglich auf ihre Kunden ab. Zu finden sind solche „Risikoüberwälzungen“ sowohl in spezialgesetzlichen Einzelbestimmungen als auch in individuellen Vertragsvereinbarungen – zumeist unter dem Titel „Haftungsbestimmungen“. Damit wird die Gefahr eines unverschuldeten Leistungsuntergangs (wie eben im Fall einer Naturkatastrophe) auf den Reisenden übertragen. So sieht insbesondere die EU-Verordnung über die Passagierrechte (EG 261/2004)* einen solchen Haftungsausschluss für Fluggesellschaften vor. Wird der Flug also infolge eines Naturereignisses annulliert, ist eine Rückforderung der Flugkosten beim Fluganbieter somit nicht möglich. Darüber hinaus könnte der Reiseanbieter auch die restlichen Reisekosten einfordern, obwohl er seine Leistung gar nicht erbringen kann. Um bei Konsumentenschützern und Kunden nicht in Verruf zu geraten, wird der Reisedienstanbieter aber regelmässig auf die Eintreibung einer solchen Restforderung verzichten.

Solche Haftungsausschlüsse bilden keine Seltenheit, weshalb die Konsultation einzelner spezialgesetzlicher Bestimmungen und individueller Vertragsbedingungen für jeden Einzelfall unumgänglich ist.

III. PAUSCHALREISEN

Eindeutig ist der Fall hingegen bei sogenannten „Pauschalreisen“. Von einer Pauschalreise spricht man, wenn mindestens zwei touristische Hauptleistungen (zumeist Flug und Unterkunft, aber auch Kreuzfahrten oder Anreise verbunden mit einer Rundreise etc.) beim selben Anbieter gebucht werden. Ist dies der Fall, kommt das Pau- schalreisegesetz zur Anwendung. Dieses Gesetz sieht explizit einen Haftungsausschluss im Fall höherer Gewalt vor. Muss der Reiseveranstalter die Pauschalreise infolge einer Naturkatastrophe annullieren, ist er somit nicht verpflichtet, den dadurch entstandenen Schaden zu ersetzen, unabhängig davon, ob er dies in seinen AGB vorsieht oder nicht.

Da bei Pauschalreisen immer zwei Hauptleistungen gebucht werden, kann eine Naturkatastrophe zur Konstellation führen, dass die Reise zwar grundsätzlich angetreten werden kann (beispielsweise findet der Flug statt), die gebuchte Unterkunft am Reiseziel aber nicht bezogen oder die geplante Rundreise nicht durchgeführt werden kann. Das Pauschalreisegesetz sieht daher für den Fall, dass der Reiseveranstalter einen erheblichen Teil der vereinbarten Leistungen nicht erbringen kann, die Leistung von Ersatzmassnahmen – u.a. auch Schadenersatz – vor. Davon ausgeschlossen sind aber wiederum Fälle der höheren Gewalt. Das heisst, der Reiseveranstalter ist somit nicht dazu verpflichtet, dem Reisenden eine Alternative (wie beispielsweise eine andere Unterkunft oder Rundreise) anzubieten. Immerhin ist der Reisevermittler jedoch gesetzlich dazu verpflichtet, dem Reisenden in solchen Situationen „Hilfe zu leisten“ (Art. 15 Abs. 2 Pauschalreisegesetz). Wie diese „Hilfe“ aussehen soll, wird allerdings nicht näher definiert.

IV. VERSICHERUNGSDECKUNG

Um schlussendlich nicht auf den Kosten sitzen zu bleiben, schliessen viele Reisende regelmässig Reiseversicherungen ab. Allerdings ist auch hierbei Vorsicht geboten. Denn auch Reiseversicherungen haften im Fall höherer Gewalt oft nur begrenzt.

Selbst wenn eine Reiseversicherung abgeschlossen wurde, müssen im Fall einer Naturkatastrophe die Allgemeinen Geschäftsbedingungen konsultiert werden. Denn gewöhnliche Basisreiseversicherungen schliessen oftmals eine Haftung für sogenannte Elementarereignisse aus. Hat sich die Versicherung eine Haftung wegbedungen und die Gefahr eines zufälligen Leistungsuntergangs auf den Versicherungsnehmer übertragen, gibt es kaum eine Möglichkeit, um sich die bereits geleisteten Zahlungen an den Reisedienstleister zurückerstatten zu lassen. Und selbst wenn Elementarereignisse vom Versicherungsschutz miteingeschlossen sind, sind die Rückerstattungskosten in ihrer Höhe häufig begrenzt.

Wurde eine sog. Annullierungskosten-Versicherung abgeschlossen, übernimmt die Versicherung die Kosten einer bereits im Voraus bezahlten Reise ebenfalls nur dann, wenn die versicherte Person die Reise aus wichtigen Gründen wie Krankheit, Unfall oder Tod des Reisebegleiters nicht antreten kann. Im Falle einer Naturkatastrophe übernimmt sie die Annullierungs-Kosten in der Regel nur in den Fällen, in welchen das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) für das betroffene Reiseziel eine Reisewarnung herausgegeben hat bzw. ausdrücklich empfiehlt, nicht in das entsprechende Land zu reisen. Im aktuellen Fall des Hurrikans „Irma“ rät das EDA aber nicht von einer touristischen Reise in die betroffenen Länder ab (mit Ausnahme von Haiti), sondern weist lediglich auf Sachschäden und eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten hin. Entsprechend muss davon ausgegangen werden, dass die Reise in die betroffenen Länder grundsätzlich angetreten werden kann und die Versicherung allfällige Annullierungskosten höchstens aus Kulanzgründen übernimmt. Möchte man dennoch von der Reise zurücktreten, schuldet man dem Reisedienstleister die Entschädigung gemäss den Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB). Die Reisewarnungen können auf der Website des EDA unter „Vertretungen und Reisehinweise“ abgerufen werden.

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* Die EU-Verordnung (EG 261/2004) über die Passagierrechte gilt für sämtliche Flüge, die ab einem EU- Flughafen starten sowie für Flüge, die von EU-Fluggesellschaften durchgeführt werden und einen EU-Flughafen als Ziel haben. Die Verordnung mitunterzeichnet haben zudem die Schweiz, Norwegen und Island. Sofern in diesem Kontext von EU gesprochen wird, sind die Schweiz, Norwegen und Island somit miteingeschlossen.

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4. Oktober 2017 / lic. iur. Patricia Geissmann


STRASSENVERKEHR – ZULÄSSIGKEIT UND VERWERTBARKEIT EINES DROGENSCHNELLTESTS

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt unter Mithilfe von Sabrina Engel (MLaw)

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

In unserem Newsletter vom 21. Dezember 2015 wurde in Anlehnung an den Entscheid des Aargauer Obergerichts vom 20. Oktobers 2015 die Rechtsfolge bei Verweigerung einer Blut- und Urinuntersuchung, die von der Polizei – anstelle der Staatsanwaltschaft – im Anschluss an einen positiven Drogenschnelltest angeordnet wurde, thematisiert (unterdessen bestätigt in BGE 6B_532/2016 vom 15.12.2016). Konkret hat das Obergericht entschieden, dass die Strafbarkeit nach Art. 91a SVG – Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit – aufgrund fehlender Zuständigkeit der Polizei verneint werden muss. Was gilt jedoch im Verweigerungsfall eines von der Polizei angeordneten Drogenschnelltests? Im Gegensatz zur Blut- und Urinprobe muss dieser Test nicht im Spital durchgeführt werden sondern kann direkt vor Ort vorgenommen werden. Schnell und unkompliziert. Muss die anwesende Polizei dennoch auch in diesem Fall zunächst den pikettdiensthabenden Staatsanwalt anrufen, damit dieser anschliessend die Durchführung des Drogentests anordnen kann? Diese Frage wird im Sinne einer Fortsetzung unsers ersten Newsletters nachfolgend beantwortet.

I. VEREITELUNG VON MASSNAHMEN ZUR FESTSTELLUNG DER FAHRUNFÄHIGKEIT (ART. 91A SVG)

Art. 91a SVG bedroht mit Strafe, wer sich als Motorfahrzeugführer vorsätzlich einer Blutprobe, einer Atemalkoholprobe oder einer anderen vom Bundesrat geregelten Voruntersuchung (Art. 10 SKV; Vortest im Urin, Speichel oder Schweiss), die angeordnet wurde oder mit deren Anordnung gerechnet werden musste, oder sich einer zusätzlichen ärztlichen Untersuchung widersetzt oder entzogen hat oder den Zweck dieser Massnahme vereitelt hat. Damit will diese Bestimmung verhindern, dass derjenige Fahrzeuglenker, der flüchtet oder sich anderweitig der Alkoholkontrolle bzw. auch einer Drogenkontrolle entzieht, besser gestellt ist als derjenige, der die Untersuchung der Polizei bzw. des Arztes über sich ergehen lässt (Urteil des Bundesgerichts 6B_229/2012 vom 5. November 2012 E. 2 mit Hinweisen).

Die genannte Strafnorm setzt jedoch zunächst voraus, dass der Täter überhaupt verpflichtet war, sich einer solchen Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit zu unterziehen bzw. bei der Durchführung einer solchen Massnahme mitzuwirken. Denn es ist selbstredend, dass nicht jedermann voraussetzungslos verpflichtet ist, sich jederzeit einer Blut- oder einer Speichelprobe zu unterziehen. Vielmehr bedeuten die entsprechenden Untersuchungsmassnahmen immer auch einen Eingriff in geschützte Grundrechtspositionen.

Eine Mitwirkungs- bzw. Duldungspflicht bei der Durchführung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit besteht nur bei einer gültigen Anordnung durch die zuständige Behörde. Die Zuständigkeit zur Anordnung dieser Untersuchungsmassnahmen ist im Strassenverkehrsgesetz (SVG) wie auch in den dazugehörigen Verordnungen nicht geregelt. Deshalb ist danach zu unterscheiden, ob die entsprechende Untersuchung strafprozessualen oder polizeilichen Charakter hat.

II. DROGENSCHNELLTEST – EINE ZWANGSMASSNAHME

Nach einhelliger Lehrmeinung und Rechtsprechung haben Untersuchungen bzw. Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit, welche nur bei Vorliegen eines konkreten Anfangsverdachts angeordnet werden, den Charakter einer strafprozessualen Zwangsmassnahme im Sinne von Art. 197 StPO.

Gemäss Art. 55 SVG verlangt einzig die Durchführung einer Atemalkoholprobe keinen konkreten Anfangsverdacht. Diese kann unabhängig vom Vorliegen allfälliger Anzeichen von Fahrunfähigkeit durchgeführt werden, womit es sich um eine Kontrolle im Rahmen der sicherheitspolizeilichen Kontrolltätigkeit handelt. Bei Vorliegen einer voraussetzungslosen Routinekontrolle, d.h. einer Atemalkoholkontrolle ohne konkreten Tatverdacht, sind neben den Vorgaben des SVG die Zuständigkeitsvorschriften des kantonalen Polizeirechts einschlägig. Zuständig ist alsdann regelmässig die Polizei. Auch die Atemalkoholprobe wird indes zur strafprozessualen Zwangsmassnahme, wenn ein Anfangsverdacht (bspw. auffälliges Fahrverhalten), gegeben ist.

Alle weiteren Untersuchungsmassnahmen, namentlich die übrigen vom Bundesrat geregelten Voruntersuchungen (Urin-, Speichel- und Schweissuntersuchungen) – d.h. auch Drogenschnelltests –, Blutproben und die zusätzlichen ärztlichen Untersuchungen erfordern bereits von Gesetzes wegen (Art. 55 Abs. 2 und 3 SVG) für deren Durchführbarkeit einen konkreten Anfangsverdacht und sind damit allesamt Zwangsmassnahmen strafprozes-sualer Natur. Konkret handelt es sich bei diesen Massnahmen um körperliche Untersuchungen im Sinne von Art. 251 StPO, bei welchen bei der betroffenen Person körpereigene Flüssigkeiten untersucht werden. Letzteres gilt im Übrigen auch für die Atemalkoholprobe.

III. ZUSTÄNDIGKEIT ZUR ANORDNUNG EINER ZWANGSMASSNAHME

Die Zuständigkeit zur Anordnung von Zwangsmassnahmen ist abschliessend bundesrechtlich geregelt. Gemäss Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO ist die Staatsanwaltschaft zur Anordnung von Zwangsmassnahmen befugt. Die Polizei ist hingegen gemäss lit. c der genannten Norm nur in den gesetzlich vorgesehen Fällen zuständig.

An dieser Stelle gilt es darauf hinzuweisen, dass in einigen Kantonen (etwa BE, FR, SO und SZ) die jeweiligen General- bzw. Oberstaatsanwaltschaften aus Praktikabilitätsüberlegungen Weisungen erlassen haben, die es den Polizeibehörden erlauben sollen, Untersuchungsmassnahmen ohne besondere Anordnung des zuständigen Staatsanwaltes anzuordnen und durchzuführen. Das Bedürfnis für eine solche Schematisierung rechtfertigt aber nicht ein sich Hinwegsetzen – mittels generellen Weisungen – über die vom Gesetzgeber bewusst gewählte und zwingende Zuständigkeitsordnung (Urteil des Obergerichts Aargau vom 20. Oktober 2015). Bei diesen Weisungen handelt es sich – aufgrund des fehlenden Gesetzescharakters – auch nicht um einen Ausnahmefall im Sinne von Art. 198 Abs. 1 lit. c StPO.

Eine andere Frage ist indes, ob die Polizei einen Fahrzeuglenker dazu auffordern kann, freiwillig an einer Untersuchungsmassnahme mitzuwirken und eine individuell konkrete Anordnung der Staatsanwaltschaft erst für den Fall vorgesehen wird, wenn sich ein Betroffener weigert. Das Obergericht Aargau hat diese Frage in seinem Entscheid vom 20. Oktober 2015 in Bezug auf die Zulässigkeit einer freiwillig abgegebenen Blut- und Urinprobe offen gelassen. Es hielt jedoch in seiner Urteilsbegründung explizit fest, dass die Verweigerung einer freiwilligen – d.h. nicht hoheitlich angeordneten – Abgabe von Blut und Urin nicht strafbar im Sinne von Art. 91a SVG ist.

Der Drogenschnelltest wird, wie vorangehend gezeigt, im Zusammenhang mit der Zuständigkeitsregelung vom Gesetzgeber gleich behandelt wie alle anderen Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit – mit Ausnahme des Alkoholatemtests. Es wird diesbezüglich auch keine Unterscheidung getroffen, ob es sich lediglich um einen Vortest handelt oder um eine anschliessende weitergehende Massnahme in Form einer Urin- oder Blutprobe. In jedem Fall handelt es sich um Zwangsmassnahmen, die nach Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO von der Staatsanwaltschaft anzuordnen sind.

IV. FAZIT

Beim Drogenschnelltest handelt es sich um eine strafprozessuale Zwangsmassnahme im Sinne von Art. 251 StPO, die gemäss Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO zwingend von der Staatsanwaltschaft anzuordnen ist. Dasselbe gilt für die Atemalkoholprobe, sofern diese aufgrund von Anzeichen der Fahrunfähigkeit vorgenommen wird. Liegt demnach nur eine Aufforderung der Polizei zur Mitwirkung vor – die auf reiner Freiwilligkeit beruht – und fehlt es an einer entsprechenden Anordnung durch die Staatsanwaltschaft, besteht für die betroffene Person keine Mitwirkungs- oder Duldungspflicht. Ohne das Bestehen einer solchen Pflicht fehlt es offensichtlich an einer Vor- aussetzung für die Erfüllung des Tatbestands von Art. 91a SVG. Ins Visier geratene Verkehrsteilnehmer haben das Recht den von der Polizei angeordneten Drogenschnelltest bzw. Atemalkoholtest aufgrund eines Anfangsverdachts zu verweigern. Nur wenn die Massnahme durch den Staatsanwalt angeordnet wird – was im Normalfall per Telefon erfolgt –, sind Betroffene gehalten, den Test durchzuführen. Davon zu unterscheiden ist allerdings die Atemalkoholkontrolle im Rahmen zulässiger Routinekontrollen, bei welchen die Polizei ohne jeglichen Anfangsverdacht auf Fahrunfähigkeit generelle Alkoholkontrollen durchführt. In diesem Fall ist die Verweigerung des Alkoholtests im Sinne von Art. 91a SVG strafbar.

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11. August 2017 / lic. iur. Stephan Hinz unter Mithilfe von Sabrina Engel (MLaw) 


MEINE RECHTE ALS FLUGPASSAGIER – EIN ÜBERBLICK

MLaw Kim Goetzinger, Rechtsanwältin unter Mithilfe von Simone Küng (MLaw)

MLaw Kim Attenhofer, Rechtsanwältin bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Die lang ersehnten und wohlverdienten Sommerferien stehen vor der Tür. Nicht selten beginnt der Ärger allerdings bereits am Flughafen. Wird man von der Fluggesellschaft infolge Überbuchung, Annullierung oder Verspätung am Flughafen sitzen gelassen oder geht das Gepäck unterwegs verloren, so haben Flugpassagiere oftmals Anspruch auf Dienstleistungen und Entschädigungszahlungen. Viele Flugreisende sind hierüber im Unwissen, denn die Fluggesellschaften informieren nur sehr zurückhaltend darüber. 

I. GELTUNGSBEREICH 

Die EU-Verordnung (EG261/2004) über die Passagierrechte gilt seit dem 1.Dezember2006 auch in der Schweiz. Sie hat ihre Gültigkeit in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie – nebst der Schweiz – in Norwegen und Island. Sofern in diesem Kontext von EU gesprochen wird, sind die Schweiz, Norwegen und Island miteingeschlossen. Die Passagierrechte gelten demzufolge für sämtliche Flüge: 

  • ab einem EU-Flughafen 
  • ab einem Drittstaat in die EU durchgeführt von EU-Fluggesellschaften 

Ist die EU-Verordnung über die Passagierrechte nicht anwendbar, muss man sich grundsätzlich an die nationale Durchsetzungsstelle des jeweiligen Abfluglandes wenden. 

II. ÜBERBUCHUNG – DENIED BOARDING 

Hat die Fluggesellschaft ihren Flug überbucht, muss sie vorab nach Passagieren suchen, die bereit sind, ihre Plätze freiwillig gegen vereinbarte Bedingungen aufzugeben. Dabei müssen die Passagiere zwischen der Erstattung des Ticketpreises und einer anderweitigen Beförderung zum Zielort wählen können. Stellt keiner der Passagiere seinen Platz freiwillig zur Verfügung, so muss die Fluggesellschaft eine Entschädigungbezahlen. Die Höhe der Entschädigung (sog. Ausgleichsanspruch) hängt von der zu fliegenden Distanz sowie der Verzögerungsdauer ab: 

  • 250.00 € ab zwei Stunden Verspätung bei Flugstrecken von 1‘500 km oder weniger 
  • 400.00 € ab drei Stunden Verspätung bei Flugstrecken zwischen 1‘500 km und 3‘500 km 
  • 600.00 € ab vier Stunden Verspätung bei Flugstrecken von über 3‘500 km 

Ist die Verspätung geringer, so kann die Fluggesellschaft die Entschädigung um bis zu 50 % kürzen. Dennoch entsteht aber ein Entschädigungsanspruch. Vorausgesetzt wird aber immer, dass sich der Passagier auch rechtzeitig am Check-In und am Gate einfindet, sowie dass er sämtliche notwendigen Reiseunterlagen dabei hat. 

Zusätzlich zum Entschädigungsanspruch hat der Passagier das Recht auf sog. Betreuungsleistungenin Form von Mahlzeiten und Getränken im Verhältnis zur Wartezeit sowie die Möglichkeit zur Telekommunikation. Verzögert sich der Alternativtransport bis zum Folgetag, so muss die Fluggesellschaft wenn nötig eine Hotelunterkunft (inklusive Transport) offerieren. 

III. ANNULLIERUNG – CANCELLED 

Muss die Fluggesellschaft den Flug annullieren und liegt der Grund hierfür im Verantwortungsbereich der Airline, so hat der Passagier grundsätzlich die Wahl zwischen einer anderweitigen Beförderung zum Reiseziel und der Erstattung des Ticketpreises. Nicht in den Verantwortungsbereich der Fluggesellschaft fallen ausserordentliche Umstände, welche trotz zumutbarer Massnahmen nicht zu vermeiden gewesen wären (wie beispielsweise Unwetter, Asche spuckende Vulkane oder Bombendrohungen). 

Dem Fluggast steht im Annullierungsfall zusätzlich ein Entschädigungsanspruch zu, 

  • wenn er weder zwei Wochen vor der Abreise über die Flugannullierung informiert wurde, 
  • noch spätestens sieben Tage vor der planmässigen Abflugzeit über ein angemessenes Alternativangebot informiert wurde, 

  • noch kurzfristig eine Alternative unterbreitet wurde, mit welcher er nicht mehr als eine Stunde vor der planmässigen Abflugzeit abfliegt und sein Endziel max. zwei Stunden nach der planmässigen Ankunftszeit erreicht, 

und der Grund für die Annullierung im Verantwortungsbereich der Fluggesellschaft liegt. Die Höhe der Entschädigung deckt sich mit dem Ausgleichsanspruch im Falle einer Überbuchung. Sie hängt entsprechend auch von der Flugdistanz und der entstandenen Verspätung ab. 

Im Weiteren hat der Passagier bei kurzfristigen Annullierungen auch hier das Recht auf Betreuungsleistungenin Form von Mahlzeiten und Getränken im Verhältnis zur Wartezeit, Telekommunikationsmöglichkeiten und wenn nötig auf eine Hotelunterkunft (inklusive Transfer). 

Der Fluggast hat überdies das Recht auf Schadenersatz bis zu 4‘150 SZR*, sofern er einen zusätzlichen belegbaren finanziellen Schaden erlitten hat. Dies ebenfalls nur, wenn die Annullierung im Verantwortungsbereich der Fluggesellschaft liegt. 

IV. GROSSE VERSPÄTUNG – DELAYED 

Eine Verspätung ist im Sinne der Verordnung erst von Relevanz, wenn sie folgende Voraussetzungen erfüllt: 

  • 2 Stunden Verspätung bei Flügen mit einer Distanz bis zu 1‘500 km
  • 3 Stunden Verspätung bei Flügen mit einer Distanz zwischen 1‘500 km und 3‘500 km 
  • 4 Stunden Verspätung bei Flügen mit einer Distanz über 3‘500 km 

Sind die Voraussetzungen erfüllt, so stehen dem Flugpassagier Betreuungsleistungen in Form von Mahlzeiten und Getränken im Verhältnis zur Wartezeit sowie Telekommunikationsmöglichkeiten zu. Kann die Flugreise erst am Folgetag angetreten werden, so muss die Fluggesellschaft eine Hotelunterkunft (inkl. Transport) anbieten. Hat der Flug 5 Stunden oder noch länger Verspätung, so hat der Fluggast das Recht auf Rückerstattung des Ticketpreises. Befindet sich der Fluggast bereits auf einem Umsteigeflughafen, so darf er einen kostenlosen Rückflug beanspruchen. 

Eine Ausgleichszahlung bei verspäteten Abflugzeiten ist in der EU-Verordnung nicht vorgesehen. Hingegen hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass bei einer Ankunftsverspätung von mindestens 3 Stunden ein Anspruch auf eine Ausgleichzahlung bestehen kann. Die Entschädigungshöhe ist dieselbe wie bei der Überbuchung (vgl. Ziff. 2). Zu beachten ist insbesondere, dass wenn die Flugnummer gewechselt hat, es sich nicht mehr um eine Verspätung sondern um eine Annullierung handelt. In diesem Fall stehen dem Fluggast die entsprechenden Entschädigungsansprüche zu. 

Hat der Fluggast einen zusätzlichen belegbaren finanziellen Schaden erlitten, so kann er von der Fluggesellschaft zudem Schadenersatz bis zu 4‘150 SZR* fordern. Dies allerdings nur, wenn die Fluggesellschaft für die Verspätung verantwortlich ist. 

V. BESCHWERDESTELLE 

In erster Linie sollte immer zuerst die betreffende Fluggesellschaft informiert werden. Erhält man keine oder eine negative Antwort, so kann man sich mit dem Bundesamt für Zivilluftfahrt (Bazl) in Verbindung setzen. Das Bazl ist für Beschwerden zuständig, sofern der Abflug von einem Schweizer Flughafen erfolgt oder wenn eine Schweizer oder EU-Airline von einem Nicht-EU-Staat in die Schweiz geflogen ist. Das Verfahren ist kostenlos. 

VI. EXKURS: GEPÄCK 

Wird ihr Flug von einer Fluggesellschaft aus der Schweiz oder der EU durchgeführt, so haftet das Transportunternehmen für Schäden, die durch Zerstörung, Verlust oder Beschädigung von Reisegepäck entstehen. 

Wird das aufgegebene Gepäck beschädigt, so kann je nach entstandenem Schaden, eine Entschädigung von bis zu 1‘131 SZR* pro Passagier verlangt werden. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der festgestellte Schaden innert sieben Tagen nach Empfang schriftlich gemeldet wird. 

Kommt das Gepäck verspätet an, so kann der Passagier bis zu 1‘131 SZR* Schadenersatz verlangen. Die Verspätung ist innert 21 Tagen seit der Gepäckaufgabe schriftlich dem Transportunternehmen zu melden. 

Ist das Gepäck 21 Tage, nachdem es hätte eintreffen sollen, noch nicht am Ziel angekommen oder hat das Transportunternehmen den Verlust des aufgegebenen Gepäcks anerkannt, so kann je nach entstandenem Schaden bis zu 1‘131 SZR* Entschädigung pro Passagier verlangt werden, sofern der Verlust binnen 7 Tagen, nachdem er festgestellt wurde, gemeldet wurde. 

Wurde der Schaden grobfahrlässig oder absichtlich verursacht, so ist die Ersatzpflicht der Fluggesellschaft nicht auf 1‘131 SZR* begrenzt. 

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* SZR: SZR steht für Sonderziehungsrecht und wurden 1969 vom Internationalen Währungsfonds als internationale Rechnungs- und Zahlungseinheit geschaffen. Ein SZR entspricht aktuell ca. CHF 1.34 (Stand Juni 2017). 

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23. Juni 2017 / MLaw Kim Goetzinger unter Mithilfe von Simone Küng (MLaw)


OBSERVATIONEN DURCH SOZIALVERSICHERUNGEN – ES FEHLEN DIE GESETZLICHEN GRUNDLAGEN

lic. iur. Judith Rhein, Rechtsanwältin, und MLaw Matthias Meier

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Seit einigen Jahren setzen Sozialversicherungen, namentlich die Unfallversicherung und die Invalidenversicherung, Detektive und heimliche Videoüberwachungen ein, wenn sie Zweifel an der Anspruchsberechtigung von Versicherten haben. Erhärtet sich der Verdacht des Betrugs, wird die entsprechende Rente gekürzt oder eingestellt und die bezogenen Leistungen werden allenfalls zurückgefordert. Die Observation von Versicherten stellt allerdings einen bisweilen schweren Eingriff in deren Privatsphäre dar, der gesetzlich nur rudimentär geregelt ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kommt nun in einem neuen Entscheid zum Schluss, dass für die Überwachung keine ausreichende Gesetzesgrundlage besteht. Der Fall dürfte weitreichende Folgen für die Observierungspraxis der Versicherungen haben und eine Gesetzesrevision unumgänglich machen.

I. DER ENTSCHEID 

Der Fall ist bereits über 20 Jahre alt: Im Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) ging es um eine Frau, die im Jahr 1995 als Fussgängerin von einem Motorrad angefahren wurde und sich hierbei Verletzungen am Kopf zuzog. Nachdem die Unfallversicherung zunächst Leistungen an die Versicherte ausgerichtet hatte, wollte sie diese später schrittweise reduzieren. Sie nahm an, dass sich die Kopf- und Nackenschmerzen über die Jahre abgeschwächt hätten und die Ausübung des früheren Berufes (Coiffeuse) für die Versicherte wieder zumutbar sei. Obwohl das Zürcher Sozialversicherungsgericht der Versicherten Recht gab, zweifelte die Unfallversicherung weiterhin an den gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Frau. Die frühere Coiffeuse widersetzte sich jedoch einer neuerlichen Untersuchung. 

Infolgedessen setzte die Unfallversicherung an vier Tagen Detektive ein. Die bei der Observierung entstandenen Foto- und Videoaufnahmen zeigten die angeblich arbeitsunfähige Frau dabei, wie sie mit dem Hund spazieren ging, über lange Distanzen Auto fuhr, problemlos mit Einkaufstaschen hantierte und dabei die Arme über den Kopf hob, was ihr laut einem medizinischen Gutachten gar nicht möglich sein sollte. Die Unfallversicherung kürzte aufgrund der Aufnahmen die Leistungen an die Versicherte. Die dagegen erhobene Beschwerde ans Bundesgericht blieb erfolglos. Das höchste Gericht bezeichnete die Observation als rechtmässig, zumal sie sich auf den öffentlichen Raum beschränkt habe. Der Einwand der Beschwerdeführerin, wonach die Überwachung einen gesetzlich nur unzureichend geregelten und damit rechtswidrigen Eingriff in ihre Privatsphäre dargestellt habe, die Aufnahmen demnach nicht verwertbar seien, wurde nicht erhört. 

Der EGMR hiess nun die Beschwerde der Versicherten gegen diesen Entscheid gut. Er stellte fest, dass die Frau durch die systematische Überwachung in ihrem Recht auf Privatsphäre verletzt worden sei. Die gesetzliche Grundlage für diesen schweren Eingriff sei zu unbestimmt. Es sei unter anderem nicht klar, wann und wie lange die Überwachung habe durchgeführt werden dürfen und wie mit dem gesammelten Material umzugehen sei. Die Schweiz wurde verpflichtet, der Frau EUR 8‘000 Genugtuung und EUR 15‘000 für ihre Auslagen zu bezahlen.

II. RECHT AUF PRIVATLEBEN/PRIVATSPHÄRE

Gemäss Art. 10 und 13 der Bundesverfassung (BV) hat jedermann Anspruch auf Persönlichkeitsentfaltung, Privatsphäre und Datenschutz. Diese Rechte dürfen nur eingeschränkt werden, wenn hierfür eine gesetzlich genügend bestimmte Grundlage besteht, der Eingriff im öffentlichen Interesse liegt und dieser zudem verhältnismässig ist (Art. 36 BV). Das bedeutet unter anderem, dass der Eingriff nicht weiter gehen darf, als es der Zweck der Massnahmen rechtfertigt.

Foto- und Videoaufnahmen von Privatpersonen stellen klarerweise einen Eingriff in diese von der Bundesverfassung geschützten Grundrechte dar. Entsprechend ist eine genügend bestimmte Rechtsgrundlage für die Observationen erforderlich. Je schwerer der Eingriff in die Privatsphäre ist, desto klarer muss die Gesetzesvorschrift sein. Auch ist bei schweren Eingriffen in der Regel eine Grundlage im Gesetz selbst vonnöten (und nicht nur in einer von der Exekutive erlassenen Verordnung). Durch die rechtliche Grundlage soll für die Versicherten vorsehbar sein, inwieweit bei Überwachungsmassnahmen überhaupt in ihre Privatsphäre eingriffen werden kann. Bezüglich Observationen bedeutet das, dass ein Eingriff namentlich je nach Ort und Zeit der Aufnahmen verschieden intensiv ist. So gehen beispielsweise Observationen im öffentlichen Raum weniger weit als auf Privatgrund (Garten, Garageplatz, Balkon) und gar in Privaträumen (Wohnung). 

Das öffentliche Interesse besteht insbesondere im Schutz der Versichertengemeinschaft vor dem Missbrauch durch Bezüger von Sozialversicherungsleistungen. Das Verhältnismässigkeitsprinzip stellt regelmässig strenge Anforderungen an den Anfangsverdacht. Es darf also nicht jeder beliebige Versicherte observiert werden – die Versicherung braucht konkrete Anhaltspunkte, dass ein Missbrauch vorliegen könnte. Auch dürfen die Überwachungen zeitlich (höchstens ein paar Tage), örtlich (in der Regel nur in der Öffentlichkeit) und persönlich (keine Aufnahmen von nicht beteiligten Dritten) nicht weiter gehen, als dies erforderlich ist. 

Der EGMR hat nun ausgeführt – anders als das Bundesgericht –, dass die gesetzlichen Grundlagen aufgrund der intensiven Observationen der Frau durch die Unfallversicherung zu unbestimmt seien (Artikel 28 und 43 des ATSG). Überwachungen durch von Unfallversicherungen beauftragte Privatdetektive seien deshalb nicht mehr zulässig, bis eine hinreichende gesetzliche Grundlage geschaffen worden sei. Entsprechende Anpassungen des ATSG waren bereits einmal geplant, wurden aber vom Bundesparlament verworfen, weil das Bundesgericht die Überwachung von Versicherten schon drei Mal als gesetzlich genügend abgestützt bezeichnet hatte. Auch die Zulässigkeit der Überwachung durch die Invalidenversicherung ist vor dem Hintergrund dieses Entscheids fragwürdig. Zwar ist der Einsatz von Überwachungsmitteln gesetzlich geregelt, die entsprechende Bestimmung (Art. 59 Abs. 5 IVG) jedoch ebenfalls unpräzis („Zur Bekämpfung des ungerechtfertigten Leistungsbezugs können die IV-Stellen Spezialisten beiziehen“). Eine Verdeutlichung der gesetzlichen Grundlagen ist wohl auch hier nötig. 

III. AUSWIRKUNGEN AUF DIE PRAXIS 

Das Urteil des EGMR dürfte weitreichende Konsequenzen haben. So ist kaum vorstellbar, dass Unfallversicherungen weiterhin Privatdetektive einsetzen dürfen, welche Versicherten mit Foto- und Videoaufnahmen überwachen – selbst wenn sie begründeten Verdacht auf einen Betrug haben. Anderenfalls ist wohl mit einer Beschwerdeflut zu rechnen. Die Suva hat bereits auf den Entscheid reagiert und setzt gemäss eigenen Angaben vorläufig keine Detektive mehr gegen mutmassliche Versicherungsbetrüger ein. Um Betrügern auf die Schliche zu kommen, können Versicherungen jedoch auch andere Mittel einsetzen (Arztuntersuchungen anordnen, Abklärungen vor Ort machen oder Zeugen befragen). 

Auch die Invalidenversicherung dürfte gut beraten sein, die gängige Überwachungspraxis zu prüfen und allenfalls vorübergehend einzustellen. Am Zug ist nun das Bundesparlament: Will es den Versicherungen den Beizug von Privatdetektiven weiterhin ermöglichen, wird es wohl um die Anpassung der Gesetze im Sozialversicherungsbereich nicht herumkommen.

IV. FAZIT 

Eingriffe in die Privatsphäre bedürfen stets einer gesetzlich genügend bestimmten Grundlage, müssen im öffentlichen Interesse und verhältnismässig sein. Das Bundesgericht stützte trotz dürftiger gesetzlicher Grundlagen die Observationen der Sozialversicherungen und stellte fest, dass Videoüberwachungen von Versicherten grundsätzlich zulässig sind. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied nun in einem über 20 Jahre dauernden Fall, dass die gesetzlichen Bestimmungen ungenügend sind. Entsprechend müssten die Unfallversicherungen und allenfalls auch die Invalidenversicherung vorläufig wohl auf Überwachungen verzichten, bis das Parlament rechtsgenügende Grundlagen für Observationen geschaffen hat.

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21. November 2016 / lic. iur. Judith Rhein, Rechtsanwältin, und MLaw Matthias Meier


HAFTUNG UND HAFTUNGSAUSSCHLUSS BEI FEHLENDER STRASSENSIGNALISATION

lic. iur. Patricia Geissmann, Rechtsanwältin, und MLaw Matthias Meier

lic. iur. Patricia Geissmann, Rechtsanwältin mit CAS M&A and Corporate Law bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Schilder, Signale und Ampeln, wohin das Auge reicht: Manch ein Strassenbenützer fühlt sich heute durch den „Schilderwald“ im Strassenverkehr eher verwirrt als orientiert. Bei manch einem Automobilisten dürfte auch der Verdacht aufkommen, dass Verkehrssignale nur platziert werden, damit die Polizei bei deren Missachtung eine Busse aussprechen kann. Interessant ist hingegen auch die gegenteilige Konstellation: Fehlt ein Signal oder eine Markierung, können auf den betreffenden Eigentümer der Strasse – in der Regel die Gemeinde, den Kanton oder die Eidgenossenschaft – unter Umständen Haftungsansprüche zukommen: Das Bundesgericht hat kürzlich in einem Entscheid bestätigt, dass die fehlende Signalisation von Gefahren einen Werkmangel darstellen kann, wodurch den Eigentümer eine Werkeigentümerhaftung treffen kann.

I. DER BUNDESGERICHTSENTSCHEID

Dem Entscheid des Bundesgerichts (Urteil 4A_479/2015 vom 2. Februar 2016) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Eine Motorradfahrerin verunfallte bei Regen auf der Autobahn in einer Linkskurve im Bereich einer Baustelle und erlitt beim Sturz leichte Verletzungen. Die Fahrbahn war im Bereich des Unfalls sehr rutschig. Die Baustelle war zwar mit dem Signal «Baustelle» gekennzeichnet; allerdings fehlte das Signal «Schleudergefahr».

Die Motorradfahrerin klagte vor Kantonsgericht Luzern gegen die (Werk-)Eigentümerin der Strasse (Eidgenossenschaft) und bekam recht. Das Bundesgericht wies die Beschwerde der Eidgenossenschaft gegen diesen Entscheid ab.

Das Bundesgericht hob zwar hervor, dass es in erster Linie Sache der einzelnen Verkehrsteilnehmer sei, die Strasse mit Vorsicht zu benützen und ihr Verhalten den Strassenverhältnissen anzupassen. Ein Strassenverkehrsteilnehmer dürfe jedoch grundsätzlich von einer guten und sicheren Strasse ausgehen. Ein Hindernis, das bei zumutbarer Aufmerksamkeit nicht rechtzeitig erkannt werden kann und mit dem nach den Umständen nicht gerechnet werden muss, muss hinreichend signalisiert werden, sofern es nicht mit zumutbarem Aufwand beseitigt werden kann. Das Fehlen einer Signalisation von Gefahren kann daher einen Werkmangel darstellen, wodurch eine Haftung des Werkeigentümers gemäss Artikel 58 OR in Frage kommt. Mit einer derart rutschigen Fahrbahn habe die Motorradfahrerin nicht rechnen müssen und können. Zusätzlich zum Signal «Baustelle» hätte daher auch das Signal «Schleudergefahr» aufgestellt werden müssen.

II. WERKEIGENTÜMERHAFTUNG

Gemäss Artikel 58 OR hat der Eigentümer eines Gebäudes oder eines andern Werkes den Schaden zu ersetzen, den diese infolge von fehlerhafter Anlage oder Herstellung oder von mangelhaftem Unterhalt verursachen. Als Werke gelten stabile, durch Menschenhand künstlich hergestellte oder angeordnete, bauliche oder technische Anlagen, die mit dem Erdboden, sei es direkt oder indirekt, dauerhaft verbunden sind. Unter den Werkbegriff fallen neben Gebäuden auch Strassen sowie blosse Werkteile wie beispielsweise Treppen, Aufzüge, Leitungen, Mauern, Abschrankungen, Schutzbauten oder auch künstlich geschaffene Skipisten. Ein Werk ist mangelhaft, wenn es nicht die erforderliche Sicherheit bietet. Als Ursachen kommen insbesondere der mangelhafte Unterhalt (wenn sich z.B. ein Ziegel vom Dach eines alten Hauses löst) bzw. die fehlerhafte Anlage oder Herstellung (z.B. eine fehlende Verbotstafel bei gefährlicher Wassertiefe für jugendliche Badegäste) in Betracht.

Der Eigentümer eines Werkes haftet für alle Schäden, die das mangelhafte Werk verursacht. Die Verpflichtung des Eigentümers, ein mängelfreies Werk zu errichten und zu unterhalten, wird umso strenger beurteilt, je grössere Risiken das Werk mit sich bringt und je kostengünstiger Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden können. Obwohl nicht jede Gefahrenquelle einen Werkmangel darstellt, der Eigentümer nur normale Risiken vermeiden, d.h. nicht jedem entfernt vorstellbaren Schaden vorbeugen muss, kann sich der Werkeigentümer grundsätzlich nicht mit dem Nachweis von der Haftung befreien, dass er die nötige Sorgfalt im Zusammenhang mit der Erstellung und dem Unterhalt des Werkes aufgewendet hat. Der Werkeigentümer haftet kraft seiner Eigentümerstellung kausal – also auch ohne Verschulden – für alle Schäden, die sein Werk verursacht.

Der Werkeigentümer kann sich auch nicht mit dem Hinweis von der Haftung befreien, dass er auf die Gefahr des Werkes hingewiesen habe. Das blosse Aufhängen oder Aufstellen von Warn- bzw. Verbotsschildern (“Zutritt verboten – Jede Haftung wird abgelehnt“ und dergleichen) genügt im Normalfall nicht, um die Haftung wegzubedingen.

Es kann höchstens als Umstand gelten, den das Gericht bei der Schadenersatzbemessung wertet.

III. DER STRASSENUNTERHALT IM BESONDEREN

Die oben beschriebenen Grundsätze der Werkeigentümerhaftung gelten grundsätzlich auch für öffentliche Strassen.

Strassen müssen – wie alle anderen Werke privater Eigentümer – so angelegt und unterhalten sein, dass sie den Benutzern hinreichende Sicherheit bieten. Im Vergleich zu anderen Werken stellt die Rechtsprechungbezüglich Anlage und Unterhalt von Strassen aber nicht allzu strenge Anforderungen. Dies insbesondere deshalb, weil das Strassennetz nicht in gleichem Mass unterhalten werden kann wie zum Beispiel ein einzelnes Gebäude. Dabei sind die Grundsätze der Rechtsprechung nicht nur auf eigentliche Strassen, sondern auch auf Plätze, Radfahrer- und Fussgängerwege, Promenaden, Reitwege, Durchgänge, Verbindungsbrücken oder Passagen anwendbar.

Es kann vom Strasseneigentümer, bei dem es sich meistens um das Gemeinwesen handelt, nicht erwartet werden, dass er jede Strasse so ausgestaltet, dass sie den grösstmöglichen Grad an Verkehrssicherheit bietet. Vom Benützer einer Strasse wird erwartet, dass er die durch die Umstände gebotene Aufmerksamkeit walten lässt.

Namentlich bei witterungsmässig schlechten Strassenverhältnissen ist Vorsicht geboten. Auf der anderen Seite ist bei selbst geschaffenen Gefahrenquellen (z.B. eine Baustelle) in der Regel mit einer entsprechenden Signalisation auf daraus entspringende Gefahren (z.B. rutschige Fahrbahn) hinzuweisen.

Es genügt somit, dass der Verkehrsteilnehmer die Strasse bei Anwendung gewöhnlicher Sorgfalt ohne Gefahr benützen kann, er also über sämtliche Gefahren informiert ist. Sodann muss in jedem einzelnen Fall geprüftwerden, ob der Strasseneigentümer – in der Regel der Staat – nach den zeitlichen, technischen und finanziellenGegebenheiten in der Lage war, seine Aufgabe zu erfüllen. Die Frage der Zumutbarkeit von Sicherheitsvorkehren

wird zudem unterschiedlich beurteilt, je nachdem, ob es sich um eine Autobahn, eine verkehrsreiche Hauptstrasse oder einen Feldweg handelt. Es muss also im Winter nicht bei jeder Nebenstrasse auf das mögliche Auftreten von Glatteis hingewiesen werden.

Auf der anderen Seite ist die Verantwortung des Eigentümers gerade bei Glatteisgefahr und starkem Publikumsverkehr hervorgehoben. In solchen Fällen muss er um die wirksame Gefahrenbeseitigung (Streuen, Auslegen eines Teppichs etc.) oder das Aufstellen eines Warnschildes besorgt sein. Die Rechtsprechung stellt hierbei an den Privateigentümer höheren Anforderungen bezüglich Unterhalt als an ein Gemeinwesen, weil dieses ein ganzes Strassennetz zu unterhalten hat. 

IV. FAZIT

Der Werkeigentümer haftet kausal – also auch ohne Verschulden – für alle Schäden, die sein Werk verursacht. Er kann sich auch nicht von der Haftung befreien, indem er schlicht auf die Gefahr des Werkes hinweist. Vielmehr hat er alles Notwendige vorzunehmen, um einen Schadenseintritt zu verhindern. Im Vergleich zu anderen Werken stellt die Rechtsprechung bezüglich Anlage und Unterhalt von Strassen aber diesbezüglich nicht allzu strenge Anforderungen.

Gerade bei Glatteisgefahr und starkem Publikumsverkehr gelten jedoch höhere Anforderungen bezüglich Aufstellen von Warnschildern und Unterhalt von Strassen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Privateigentümer einer Strasse höhere Anforderungen treffen. Ihnen ist deshalb zu empfehlen, auf den Unterhalt von Gebäuden und anderen Werken zu achten und gegebenenfalls mit Warnschildern auf Gefahren hinzuweisen.

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2. Juni 2016 / lic. iur. Patricia Geissmann, Rechtsanwältin, und MLaw Matthias Meier


AUSWIRKUNGEN DER EINSPRACHE GEGEN EINEN STRAFBEFEHL AUF DIE VERFOLGUNGSVERJÄHRUNG

lic. iur. Patricia Geissmann, Rechtsanwältin, und Antonia Mästinger, MLaw

lic. iur. Patricia Geissmann, Rechtsanwältin mit CAS M&A and Corporate Law bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Das Bundesgericht hatte sich in einem kürzlich erschienenen Urteil mit der Frage des Eintritts der Rechtskraft bei Erlass eines Strafbefehls zu befassen. Dem Entscheid liegt der Sachverhalt zugrunde, bei dem die Überschreitung der innerorts geltenden Höchstgeschwindigkeit um 16 km/h im April 2011 mittels Strafbefehl mit einer Busse von Fr. 290 bestraft wurde. Das zuständige Bezirksgericht, welches sich mit der gegen diesen Strafbefehl erhobenen Einsprache zu befassen hatte, bestätigte die Busse von Fr. 290 mit Urteil vom 24. Juni 2014.

Gegen den Entscheid wurde Berufung eingereicht, mit der Begründung, die Verfolgungsverjährung sei bereits eingetreten, weshalb eine Verurteilung durch das Bezirksgericht nicht mehr möglich gewesen sei. In Gutheissung dieser Berufung wurde das Verfahren im April 2015 wegen Verjährung eingestellt. Dagegen erhob die Oberstaatsanwaltschaft Beschwerde in Strafsachen vor Bundesgericht mit der Begründung, die Verjährungsfrist sei im Zeitpunkt der Überweisung des Verfahrens an das Bezirksgericht unterbrochen worden. Im Entscheid 6B_608/2015 vom 15. Januar 2016 hatte das Bundesgericht somit die Frage zu beantworten, ob das Verfahren wegen Eintritts der Verfolgungsverjährung zu Recht eingestellt worden ist oder nicht.

I. VERJÄHRUNGSFRIST VON ÜBERTRETUNGEN

Bei der vorliegend begangenen Verkehrsregelverletzung handelt es sich um eine Übertretung gemäss Art. 90 Abs. 1 SVG, welche mit Busse bestraft wird. Gem. Art. 109 StGB verjähren Übertretungen in drei Jahren. Die Verjährung beginnt an dem Tag zu laufen, an welchem die Übertretung begangen worden ist, vorliegend also im April 2011. Art. 97 Abs. 3 StGB bestimmt, dass die Verjährung dann nicht mehr eintritt, wenn vor Ablauf der Verjährungsfrist ein erstinstanzliches Urteil ergangen ist. Um ein solches handelt es sich bei einem richterlichen Urteil oder bei einem rechtskräftigen Entscheid einer Justizbehörde, d.h. bspw. der Staatsanwaltschaft (BGE 135 IV 196 E. 2.6 S. 198).

II. FEHLENDE URTEILSQUALITÄT

Bis zu einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 15 km/h innerorts wird gemäss Nr. 303 des Anhangs 1 zur Ordnungsbussenverordnung (OBV) eine Ordnungsbusse erteilt. Liegt, wie vorliegend, indes eine höhere Geschwindigkeitsüberschreitung vor, kann das Ordnungsbussenverfahren nicht mehr angewendet werden. In solchen Fällen wird ein Strafbefehl ausgestellt, den die beschuldigte Person akzeptieren oder gegen den sie gemäss Art. 354 Abs. 1 StPO bei der Staatsanwaltschaft innert Frist von 10 Tagen Einsprache erheben kann. Wird von dieser letztgenannten Möglichkeit kein Gebrauch gemacht, wird der Strafbefehl gemäss Art. 354 Abs. 3 StPO zum rechtskräftigen Urteil erhoben. E contrario ergibt sich aus dieser Bestimmung, dass einem Strafbefehl, der mittels Einsprache angefochten wird, die Urteilsqualität per se abgeht, weshalb auch kein erstinstanzliches Urteil im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB vorliegt. Denn die Einsprache ist ein Rechtsbehelf, der dazu führt, dass der Strafbefehl gerade nicht in Rechtskraft erwächst, sondern dahinfällt. In diesem Sinne hat das Bundesgericht in seinem Entscheid vom 15. Januar 2016 entschieden, dass die Verjährungsfrist aufgrund der Erhebung der Einsprache im vorliegenden Fall nicht unterbrochen worden ist und folglich auch während des Verfahrens vor Bezirksgericht weiterhin lief.

Nach Erheben der Einsprache hat die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 355 StPO die weiteren Beweise abzunehmen, welche zur Beurteilung der Sachlage erforderlich sind, um darüber zu entscheiden, ob (1.) am Strafbefehlf estgehalten werden soll, was gemäss Art. 356 Abs. 1 StPO dazu führt, dass die Akten dem erstinstanzlichen Gericht zur Durchführung des Hauptverfahrens überwiesen werden, ob (2.) das Verfahren ganz einzustellen sei, (3.) ein neuer Strafbefehl erlassen werden soll oder aber ob (4.) Anklage beim erstinstanzlichen Gericht zu erheben sei. Von dieser letztgenannten Möglichkeit hat die Staatsanwaltschaft im vorliegenden Fall Gebrauch gemacht.

Zu berücksichtigen gilt es, dass das vorstehend geschilderte Strafbefehlsverfahren nur dann erlaubt ist, wenn die Voraussetzungen von Art. 352 StPO erfüllt sind. Dies bedeutet einerseits, dass die beschuldigte Person den Sachverhalt im Vorverfahren eingestanden haben muss oder dieser anderweitig ausreichend geklärt ist. Weiter darf mit Strafbefehl nur eine Busse, eine Geldstrafe von höchstens 180 Tagessätzen, gemeinnützige Arbeit von höchstens 720 Stunden oder eine Freiheitsstrafe von höchstens 6 Monaten ausgefällt werden. Verallgemeinert ausgedrückt darf ein Strafbefehl somit nur bei leichteren Delikten erlassen werden. Dies deshalb, weil das Strafbefehlsverfahren ein vereinfachtes schriftliches Verfahren darstellt, in welchem eine Anklage vor Gericht, sowie eine Hauptverhandlung mit Beweisverfahren nur stattfindet, wenn dieser nicht akzeptiert wird und dagegen folglich Einsprache erhoben wird (Niggli, Heer, Wiprächtiger, RIKLIN, Vor Art. 352-356 N 1).

Handelt es sich um ein schwereres Delikt, bei welchem der Erlass eines Strafbefehls nicht mehr möglich ist, kann die Verjährung – in Übereinstimmung mit Art. 97 Abs. 3 StGB – frühestens mit dem erstinstanzlichen Urteil unterbrochen werden. Hätte das Bundesgericht nun entschieden, dass in einem Strafverfahren aufgrund eines leichteren Deliktes, wie einer Geschwindigkeitsüberschreitung, in welchem die Voraussetzungen des Strafbefehlsverfahrens erfüllt sind, die Verjährung bereits durch die Anfechtung des Strafbefehls unterbrochen wird, hätte dies dazu geführt dass die Verjährung bei leichteren Delikten früher unterbrochen werden kann als bei schwereren Delikten. Da dies zu einer stossenden Ungleichbehandlung geführt hätte, ist der Entscheid des Bundesgerichts nachvollziehbar.

III. FAZIT

Da gegen den Strafbefehl Einsprache erhoben worden ist, fehlt dem Strafbefehl die Urteilsqualität, welche zur Unterbrechung der Verjährung erforderlich ist. Die dreijährige Verfolgungsverjährung hat somit im April 2011 zu laufen begonnen und ist nach drei Jahren, d.h. im April 2014, eingetreten. Im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Urteils des Bezirksgerichts im Juni 2014 ist die Verjährung daher bereits eingetreten, weshalb das Bundesgericht die gegen den obergerichtlichen Entscheid erhobene Beschwerde abgewiesen hat.

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26. Februar 2016 / lic. iur. Patricia Geissmann


MÖGLICHKEITEN DER ERBENGEMEINSCHAFT NACH ARRESTBESCHLAG AUF DEM GRUNDSTÜCKSANTEIL EINES ERBEN

lic. iur. Patricia Geissmann, Rechtsanwältin und Claudia Biellmann Liebi, MLaw

lic. iur. Patricia Geissmann, Rechtsanwältin mit CAS M&A and Corporate Law bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Ist ein Erbe einer Erbengemeinschaft verschuldet, kann dies für die anderen Erben zu unangenehmen Situationen führen. Dies beispielsweise dann, wenn sich in der Erbschaft ein Grundstück befindet, das in der Folge von einem Gläubiger des verschuldeten Erben verarrestiert wird. Ein Arrest auf einem Grundstück bedeutet eine umfassende Einschränkung der Verfügungsfreiheit über das gesamte Grundstück, auch wenn der Wert des Grundstücks einiges höher ist als die Forderung des betreffenden Gläubigers. Für die Erbengemeinschaft hat ein Arrest die Konsequenz, dass das Grundstück weder veräussert werden kann, noch irgendwelche anderen rechtlichen oder tatsächlichen Veränderungen daran vorgenommen werden dürfen. Es stellt sich somit die Frage, welche Mittel ergriffen werden können, um die uneingeschränkte Verfügungsfreiheit über das Grundstück wieder zu erlangen.

I. ARRESTBESCHLAG IN FOLGE EINES KONKURSVERLUSTSCHEINS

Können in einem Konkurs nicht alle Gläubiger befriedigt werden, erhält jeder Gläubiger für den ungedeckten Betrag seiner Forderung von Amtes wegen einen Verlustschein (Art 265 Abs. 1 SchKG). Damit kann eine neue Betreibung gegen den Schuldner allerdings nur dann eingeleitet werden, wenn dieser zu neuem Vermögen gekommen ist. Ein Umstand, der zu neuem Vermögen führen kann, ist bspw. ein Erbanfall. Da der Konkursverlustschein auch einen Arrestgrund gem. Art. 271 Abs. 5 SchKG bildet, gibt er seinem Inhaber ein wichtiges Sicherungsmittel zu Hand, welches ihm erlaubt, neues Vermögen des Schuldners, bspw. aufgrund einer angefallenen Erbschaft, provisorisch als Vollstreckungssubtrat zu sichern.

Befindet sich in der Erbmasse ein Grundstück, so liegt dieses, solange die Erbteilung noch nicht vorgenommen worden ist, i.S.v. Art. 652 ZGB im Gesamteigentum der Erbengemeinschaft. Charakteristisch für das Gesamteigentum ist, dass sich das Eigentumsrecht jedes einzelnen Gesamteigentümers (im vorliegenden Sachverhalt jedes einzelnen Erben der Erbgemeinschaft) auf die ganze Sache erstreckt und nicht nur auf einen einzelnen, unabhängigen Teil davon. Der Arrestbeschlag einer Sache im Gesamteigentum hat somit zur Folge, dass die Verfügungsgewalt über die ganze Sachen, bei einem Grundstück somit über das ganze Grundstück, verloren geht.

Folglich kann ein einmal verarrestiertes Grundstück – auch wenn sich der Arrest nur auf den Erbteil eines einzelnen Erben bezieht – weder veräussert werden, noch ist die Erbengemeinschaft befugt, daran irgendwelche andere Änderungen vorzunehmen. Darüber hinaus wird der arrestsuchende Gläubiger aus dem Grundstück selbst befriedigt werden, was aufgrund des Gesamteigentums nur dadurch möglich sein wird, dass das Betreibungsamt das Grundstück als Ganzes verwertet (und nicht nur den ideellen Anteil des verschuldeten Erben). Die Verwertung des Grundstücks erfolgt in aller Regel durch Versteigerung.

II. MÖGLICHKEITEN ZUR ABWENDUNG DES VERFÜGUNGSVERBOTES

Will die Erbengemeinschaft die Versteigerung des Grundstücks verhindern und die freie Verfügung darüber zurück erhalten, hat sie hierfür verschiedene Möglichkeiten. Nachfolgend werden zwei mögliche Wege aufgezeigt. 
a. Befriedigung des Gläubigers 
Einerseits bestünde die Möglichkeit, das Gespräch mit dem arrestersuchenden Gläubiger zu suchen und diesen gegen Bezahlung der Schuld zum Rückzug des Arrestes zu bewegen. Dies wird jedoch nur dann gelingen, wenn der Schuldner über liquide Mittel im Umfang der Forderungssumme verfügt. Erschöpft sich das neue Vermögen des Arrestschuldners jedoch in seinem Anteil an dem geerbten Grundstück, so werden ihm dazu die liquiden Mittel fehlen. Allenfalls sind dann die anderen Miterben, welche am verarrestierten Grundstück ebenfalls anteilig berechtigt sind, bereit, die Forderungen des Gläubigers zu befriedigen. Darauf werden sich die Erben wohl aber nur dann einlassen, wenn der Erbanspruch des verschuldeten Miterben grösser ist als die Forderung des Gläubigers, andernfalls die Miterben einen Teil dieser Forderung aus ihrem eigenen Erbteil bezahlen müssten.

b. Erbringung einer Sicherheitsleistung

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, den Arrestgegenstand gestützt auf Art. 277 SchKG gegen Bezahlung einerSicherheitsleistung beim Betreibungsamt „einzutauschen“. Dies hat den Vorteil, dass dadurch die freie Verfügung über die Arrestgegenstände wieder erlangt werden kann. Neben dem Arrestschuldner können auch Drittansprecher oder Drittschuldner mit befreiender Wirkung an das Betreibungsamt leisten. Nach Bezahlung dieser Sicherheitsleistung hat die Erbengemeinschaft zumindest die Möglichkeit, wieder nach Belieben über den nunmehr frei gewordenen Arrestgegenstand zu verfügen. Ein verarrestiertes Grundstück wird somit durch Leisten einer hinreichenden Sicherheit wieder veräusserbar.

Die Sicherheitsleistung ist an das Betreibungsamt zu leisten. Sie tritt an die Stelle des Arrestobjektes. Der Höchstbetrag für die Sicherheitsleistung entspricht demjenigen Betrag, auf den der Betreibungsbeamte die Arrestforderung samt Nebenrechten geschätzt hat (BGE 114 III 38).

Die Möglichkeit der Hinterlegung einer Sicherheitsleistung ist insbesondere dann sinnvoll, wenn bereits ein potentieller Käufer für das verarrestierte Grundstück gefunden ist, allenfalls bereits vor Bekanntwerden des Arrestes. In einer solchen Situation bietet es sich an, mit dem potentiellen Käufer eine Vereinbarung zu treffen, dass ein Teil des Kaufpreises nicht an die Erbengemeinschaft, sondern direkt an das Betreibungsamt als Sicherheitsleistung bezahlt wird, sodass dadurch das Verfügungsverbot über das Grundstück aufgehoben werden kann. Die Einzelheiten müssen jedoch mit dem Betreibungsamt abgesprochen werden, weshalb es sich empfiehlt, sich diesbezüglich vorab rechtlich beraten zu lassen.

III. FAZIT

Ist ein Erbe einer Erbengemeinschaft verschuldet, besteht die Gefahr, dass Objekte der Erbmasse durch Arrestbeschlag „blockiert“ werden. Für die Erbengemeinschaft ist dies mit der negativen Folge verknüpft, dass sie die freie Verfügungsgewalt über die verarrestierten Objekte verliert. Scheitern die Versuche, sich mit dem arrestersuchenden Gläubiger zu einigen, um so den Arrestbeschlag abzuwenden, kann durch Hinterlegen einer Sicherheitsleistung die freie Verfügungsgewalt über das Arrestobjekt wiedererlangt werden. Art. 277 SchKG erlaubt es dem Arrestschuldner, sowie einem an dem Arrestobjekt besser Berechtigten oder einem Drittschuldner, durch Leisten einer Sicherheit an das Betreibungsamt die freie Verfügungsmacht über das Arrestobjekt zurück zu gewinnen.

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17. November 2015 / lic. iur. Patricia Geissmann

GEISSMANN RECHTSANWÄLTE AG
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