Blog

NACHEHELICHER UNTERHALT: BUNDESGERICHT (5A_568/2021) RÜTTELT AM BEGRIFF DER LEBENSPRÄGUNG DER EHE

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt und Mediator SAV

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Das Scheidungsrecht beinhaltet unter gewissen Voraussetzungen einen Anspruch auf Unterhaltszahlungen durch den jeweils anderen Ehegatten für die Zeit nach der Scheidung. In einer Reihe von Grundsatzentscheiden hat das Bundesgericht in letzter Zeit das Unterhaltsrecht in entscheidenden Punkten revidiert. Aktuell scheint diese Modernisierungsbewegung des Unterhaltsrechts weiterzugehen, indem das Bundesgericht in seinem jüngsten Urteil zum Unterhaltsrecht die bisher geltenden Annahmen, wann eine Ehe als lebensprägend zu gelten hat, in Frage stellt. Die Lebensprägung ist eine der Voraussetzungen, um Anspruch auf nachehelichen Unterhalt zu haben.

.

.

.

.

.

I. GRUNDSÄTZE DES UNTERHALTSRECHTS

Nacheheliche Unterhaltsansprüche, d.h. solche, welche auch nach der rechtskräftigen Scheidung fortdauern, haben ihre rechtliche Grundlage in der sogenannten nachehelichen Solidarität. Dennoch, und nun umso mehr, ist es so, dass der nacheheliche Rentenanspruch an sich eine Ausnahme darstellt bzw. darstellen sollte. Grundsätzlich gilt nämlich nach der Scheidung, und dahin tendiert das Bundesgericht in letzter Zeit immer mehr, die Eigenversorgungspflicht beider Ehegatten. Es wird verlangt, dass jeder für seinen eigenen Bedarf selber aufkommt.

Immer dann, wenn also Gerichte Unterhalt für einen Ehegatten festlegen, hängt dies damit zusammen, dass aufgrund der gelebten Rollenverteilung während der Ehe oder aus anderen Gründen wie Alter, Krankheit, sonstiger Aussichtslosigkeit eigener Erwerbstätigkeit etc. die vorgenannte Eigenversorgungskapazität zu gering oder gar nicht vorhanden ist.

.

II. «LEBENSPRÄGENDE EHE»

Für die Frage, ob ein nachehelicher Unterhalt geschuldet ist, ist entscheidend, ob die gelebte Ehe für den Unterhalt ansprechenden Ehegatten lebensprägend war oder nicht. Wird diese Frage bejaht, so haben die Eheleute nach der Scheidung grundsätzlich Anspruch auf Fortführung des zuletzt gelebten gemeinsamen Lebensstandards. Bis vor kurzem galt die Vermutung, dass eine Ehe immer dann als lebensprägend zu qualifizieren ist, wenn sie mehr als 10 Jahre gedauert hat und/oder aber Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind.

Bereits in einem früheren Entscheid (BGE 5A_907/2018) stellte das Bundesgericht im Rahmen seiner Modernisierung des Unterhaltsrechts bei der Frage der Lebensprägung darauf ab, ob die Erwerbstätigkeit und damit die ökonomische Selbstständigkeit zugunsten der Besorgung des Haushalts und der Betreuung der Kinder hat aufgegeben werden müssen und ob es der betroffenen Person eben gerade deshalb nach langjähriger Ehe nicht mehr möglich ist, an die frühere berufliche Stellung anzuknüpfen oder einer ähnlichen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Neu war an diesem Entscheid, dass das Bundesgericht nicht mehr schematisch, sondern stets für den Einzelfall die Frage der Lebensprägung beantwortet haben wollte. Damit wendete sich das Bundesgericht von seiner langjährigen Rechtsprechung ab, wonach das Vertrauen in den Fortbestand der Ehe bei längerer Dauer oder gemeinsamen Kindern zu vermuten ist und man daraus Unterhaltsansprüche ableiten kann.

.

III. LEBENSPRÄGUNG MUSS BEWIESEN WERDEN

Neu wird das Bundesgericht bezüglich der Frage, ob eine lebensprägende Ehe vorliegt oder nicht, noch strenger (BGE 5a_568/2021). Erst dann, wenn von einem schutzwürdigen Vertrauen auf eine Fortführung der Ehe ausgegangen werden kann, ist für den Unterhalt ansprechenden Ehegatten auch der Anspruch auf Fortführung des zuletzt gelebten gemeinsamen Standards bzw. bei, zufolge scheidungsbedingter Mehrkosten, ungenügender Mittel Anspruch auf beidseits gleiche Lebenshaltung gegeben. Wird dieses schutzwürdige Vertrauen auf Fortführung der Ehe verneint, ist für den nachehelichen Unterhalt am vorehelichen Stand anzuknüpfen, d.h. der Unterhalt begehrende Ehegatte maximal so zu stellen, wie wenn die Ehe nicht geschlossen worden wäre.

Das Bundesgericht hat sich offenbar verabschiedet von der Idee, dass die Lebensprägung den «Kippschalter» bezüglich der Frage von nachehelichem Unterhalt darstellen soll. Die bisher für das Vorliegen einer Lebensprägung sprechenden Vermutungen (gemeinsame Kinder, mindestens 10-jährige Ehedauer) gelten für sich alleine nicht mehr. Eine Ehe ist vielmehr nur noch dann als lebensprägend einzustufen, wenn ein Ehegatte aufgrund eines gemeinsamen Lebensplanes seine wirtschaftliche Selbständigkeit zugunsten der Haushaltsbesorgung und Kinderbetreuung aufgegeben hat und es ihm nach langjähriger Ehe nicht mehr möglich ist, an seiner früheren beruflichen Stellung anzuknüpfen.

Hinzu kommt, dass seit dem Inkrafttreten des neuen Kinderunterhaltsrechts diejenigen Nachteile, welche einem Elternteil aus der nachehelichen Betreuung von Kindern erwachsen, primär durch den Betreuungsunterhalt, enthalten im Kinderunterhalt, ausgeglichen werden (Art. 276 und 285 ZGB). Beim nachehelichen Unterhalt kann es also nur noch um «andere oder weitere wirtschaftliche Nachteile» gehen. Das neue Kinderunterhaltsrecht soll auch verheiratete Elternteile denjenigen aus einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft gleichstellen. Vor diesem Hintergrund ist fraglich, inwiefern Nachteile, welche aus der Kinderbetreuung herrühren, für sich alleine überhaupt noch zur Begründung einer Lebensprägung (und eines eigenen Ehegattenunterhalts) geeignet sind. Somit kann also aus dem Vorhandensein gemeinsamer Kinder alleine für sich klar nicht mehr auf eine Lebensprägung geschlossen werden.

Wer nachehelichen Unterhalt für sich beanspruchen will, hat also aufzuzeigen, dass sich die wirtschaftliche Abhängigkeit seiner Person im Laufe der ehelichen Beziehung und insbesondere seit Eheschluss in eine bestimmte Richtung entwickelt hat und dabei auf die wirtschaftliche Untersützung des jeweils anderen Ehegatten gebaut wurde. Dabei ist ausschlaggebend, dass diese geltend zu machende wirtschaftliche Konstellation/Abhängigkeit zwingend direkte oder notwendige Folge der Ehe an sich ist und im Vertrauen auf den Fortbestand der Ehe gründet. Liegt hingegen eine Konstellation vor, wo Eheleute von sich aus, unabhängig von der Ehe, wirtschaftliche Bindungen und Abhängigkeiten eingegangen sind, so kann dies für sich selber keine Lebensprägung bedeuten (5A_568/2021).

.

IV. FAZIT

Die sich für einen Ehegatten nach der Scheidung wirtschaftlich negativ auswirkenden ehebedingte Nachteile müssen inskünftig wohl genauer geprüft und aufgezeigt werden. Eine lange Ehedauer oder gemeinsame während der Ehe gezeugte Kinder sind für sich alleine keine Konstellationen, welche automatisch Anspruch auf nachehelichen Unterhalt vermitteln. Vielmehr muss geltend gemacht werden, dass aufgrund der bestehenden Ehe dauerhafte Vorkehrungen getroffen worden sind – dies vor dem Hintergrund des Vertrauens in den weiteren Bestand der Ehe –, welche wirtschaftlich negative Auswirkungen auf einen der Ehepartner haben und sich nachehelich auswirken


26. April 2022 / lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt und Mediator SAV

Sorry, the comment form is closed at this time.