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ARBEITSZEITERFASSUNG – NEUES ZUM ALTEN ZOPF

Dr. iur. Stephan Fröhlich, Rechtsanwalt, und Matthias Meier, MLaw

.Am Morgen eine halbstündige Kaffeepause, am Mittag ein einstündiger Lunch, am Nachmittag erneut eine halbstündige Kaffeepause: Für viele Arbeitnehmer gehört das zum Alltag. In der Praxis ist Arbeitgebern jedoch oftmalsnicht bewusst, dass sie durch das Arbeitsgesetz und die dazugehörigen Verordnungen verpflichtet sind, bis auf wenige Ausnahmen die Arbeitszeiten sämtlicher Arbeitnehmer lückenlos – also auch die Pausen – zu erfassen.

Seit dem 1. Januar 2016 gelten neue Modalitäten; die Dokumentationspflicht wird für bestimmte Arbeitnehmer gelockert. Es kann für gewisse Kategorien von Angestellten vereinbart werden, vollständig oder zumindest teilweise auf die Aufzeichnung der Arbeitszeiten zu verzichten. Trotz diesen Erleichterungen stellt die Arbeitszeiterfassung für viele Arbeitgeber weiterhin ein notweniges Übel dar. Sie kann jedoch unter Umständen auch im Zusammenhang mit anderen Bereichen des Arbeitsrechts relevant werden, wie ein kürzlich vom Bundesgericht entschiedener Fall zeigt: Das höchste Gericht hat entschieden, dass auch ein nur leicht manipuliertes Zeiterfassungssystem durch den Arbeitnehmer einen massiven Treuebruch darstellt, welcher eine fristlose Entlassung rechtfertigt.

I. GRUNDLAGEN

In der Schweiz sind bis auf wenige Ausnahmen alle Arbeitnehmer verpflichtet, ihre Arbeitszeiten zu erfassen. Die Aufzeichnungen sollen sicherstellen, dass die im Arbeitsgesetz verankerten Vorschriften über die Arbeits- und Ruhezeiten eingehalten werden. Ziel dieser Regeln ist der Schutz der Gesundheit der unselbstständig Erwerbstätigen.

Den gesetzlichen Bestimmungen über die Arbeits- und Ruhezeiten liegt der Gedanke zugrunde, dass regelmässige Verstösse gegen diese bei den betroffenen Personen mittelfristig zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen können.

Die Arbeitszeiterfassung bezweckt indes nicht nur den öffentlich-rechtlichen Gesundheitsschutz. Die Dokumentationder Arbeitszeit kann für Arbeitnehmer auch eine disziplinierende Wirkung haben: Zu denken ist beispielsweise an das rechtzeitige Erscheinen zur sowie die Einhaltung der Pausen während der Arbeit. Wird auf die Zeiterfassung verzichtet, kann dies im Gegenzug unter Umständen einen unerwünschten Konkurrenzdruck und die gegenseitige Überwachung der Arbeitnehmer zur Folge haben. In diesem Sinne wirkt die Zeitaufzeichnung auch möglichen Konfliktsituationen am Arbeitsplatz entgegen. Neben der Kontrollfunktion hat die Arbeitszeiterfassung in der Praxis häufig auch eine Beweisfunktion. Die Arbeitszeiterfassung dient oftmals als Beweismittelfür Ansprüche im Zusammenhang mit der Arbeitszeit – insbesondere bei Forderungen aus Überstunden oder Überzeit.

Nach Art. 46 des Arbeitsgesetzes (ArG) hat der Arbeitgeber die Verzeichnisse oder andere Unterlagen, aus denen die für den Vollzug des Gesetzes und seiner Verordnungen erforderlichen Angaben ersichtlich sind, den Vollzugs- und Aufsichtsorganen (kantonale Arbeitsinspektorate) zur Verfügung zu halten. Dazu gehören gemäss Art. 73 Abs. 1 der Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz (ArGV 1) namentlich die geleistete (tägliche und wöchentliche) Arbeitszeit inklusive Ausgleichs- und Überzeitarbeit sowie ihre Lage (lit. c), die gewährten wöchentlichen Ruhe- oder Ersatzruhetage, soweit diese nicht regelmässig auf einen Sonntag fallen (lit. d), sowie die Lage und Dauer von Pausen von einer halben Stunde und mehr (lit. e). Die Aufbewahrungsfrist für diese Unterlagen beträgt mindestens fünf Jahre (Art. 73 Abs. 2 ArGV 1).

Die Form der Aufzeichnung ist dem Arbeitgeber freigestellt. Es ist insbesondere keine Formularpflicht vorgesehen.

Die Aufzeichnungen können beispielsweise von Hand (Kalendereintrag, Excel-Tabelle), durch elektronische Erfassung mit bestimmten Hilfsmitteln (IT-Login) oder durch die Dokumentation von Abweichungen zu vorgegebenen Fixzeiten geführt werden. In vielen Unternehmen wird eine spezifische Zeiterfassungssoftware verwendet. Die neuen Organisationsformen dürfen die Überprüfung der gesetzlichen Vorschriften durch die Kontrollorgane nicht beeinträchtigen. Auch bei elektronischer Datenverarbeitung müssen die Informationen schriftlich oder in zu vereinbarender Form den Behörden zur Verfügung gestellt werden. Letztlich muss für jeden Mitarbeitenden nachvollziehbar sein, wann er gearbeitet und die Pausen bezogen hat. Weil die Lage der Arbeitszeit und der Pausen von über einer halben Stunde erfasst werden muss, kommt jede Zeiterfassungsdokumentation dem klassischen Stempeln recht nahe – was auch von um Rechtskonformität bemühten Unternehmen oft unterschätzt wird.

II. NEUE MODALITÄTEN SEIT 1. JANUAR 2016

In den letzten Jahren hat die Diskrepanz zwischen der Arbeitszeiterfassungspflicht und der Rechtswirklichkeit zugenommen, namentlich bei Arbeitnehmern, die über erhöhte Zeitautonomie verfügen. Für eine Mehrzahl dieser sogenannten Fachkräfte gilt in der Praxis faktisch nicht die Prämisse «Lohn gegen Arbeitszeit», sondern «Lohn gegen Leistung». Gerade im Dienstleistungssektor kann die Abgrenzung zwischen Arbeits- und Freizeit nicht immer scharf gezogen werden. Die Dokumentation der Arbeitszeiten wird insbesondere bei hochqualifizierten Angestellten oft als unnötiger bürokratischer Mehraufwand empfunden.

Die Politik hat die Problematik erkannt. Nach jahrelangem Seilziehen hat der Bundesrat am 4. November 2015 zwei neue Verordnungsbestimmungen verabschiedet (Art. 73a und 73b ArGV 1), die sowohl den veränderten Bedürfnissen der Praxis entsprechen als auch eine ausreichende Kontrolle der gesetzlichen Vorschriften sicherstellen sollen. Bestimmte Arbeitnehmer werden durch die neuen Regelungen vollständig oder teilweise von der gesetzlichen Erfassungspflicht befreit. Die von den Sozialpartnern ausgearbeitete Vorlage trat per 1. Januar 2016 in Kraft (vgl. im Einzelnen dazu MATTHIAS MEIER, Arbeitszeiterfassung – die Dokumentationspflicht wird teilweise gelockert, Jusletter vom 21. Dezember 2015).

Mit den neuen Vorschriften werden Ausnahmen zu Art. 73 ArGV 1 geschaffen, welcher eine detaillierte Erfassungspflicht für alle Erwerbstätigen vorsieht, die dem Arbeitsgesetz unterstellt sind. Durch die neuen Verordnungsartikel könnten bezüglich Zeiterfassungspflicht vier Gruppen unterschieden werden:

– Vom Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes ausgenommene Arbeitnehmer müssen ihre Arbeitszeiten nicht aufzeichnen. Ausgenommen vom Geltungsbereich sind insbesondere höhere leitende Angestellte, also Arbeitnehmer, welche auf Grund ihrer Stellung und Verantwortung sowie in Abhängigkeit von der Grösse des Betriebes über weitreichende Entscheidungsbefugnisse verfügen oder Entscheide von grosser Tragweite massgeblich beeinflussen und dadurch auf die Struktur, den Geschäftsgang und die Entwicklung eines Betriebes oder Betriebsteils einen nachhaltigen Einfluss nehmen können (Art. 9 ArGV 1). Eine Erfassungspflicht kann für solche Arbeitnehmer allenfalls vertraglich vereinbart werden.

– Arbeitnehmer, die über grosse Autonomie verfügen und ihre Arbeitszeiten grösstenteils selber festsetzen können sowie über ein Bruttojahreseinkommen von mehr als CHF 120’000 verfügen (Art. 73a ArGV 1), können auf die Arbeitszeiterfassung verzichten, sofern die weiteren Voraussetzungen aus Art. 73a ArGV 1 erfüllt sind (namentlich eine entsprechende Regelung in einem Gesamtarbeitsvertrag, vgl. Tabelle sogleich) – Arbeitnehmer, die ihre Arbeitszeiten weitgehend selber festsetzen können (Art. 73b ArGV 1), müssen einzig die geleistete tägliche Arbeitszeit erfassen, sofern die weiteren Voraussetzungen aus Art. 73b ArGV 1 erfüllt sind (namentlich eine entsprechende Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und einer Arbeitnehmer-Vertretung bzw. einem einzelnen Arbeitnehmer, vgl. Tabelle sogleich).

– Die übrigen Arbeitnehmer müssen die Arbeitszeiten weiterhin lückenlos dokumentieren (Art. 73 ArGV 1).

III. FRISTLOSE KÜNDIGUNG BEI UNGENAUER ZEITERFASSUNG

Nach Art. 46 ArG ist der Arbeitgeber für die Arbeitszeiterfassung verantwortlich. Es ist jedoch grundsätzlich möglich (und in der Praxis verbreitet), die Dokumentation der Arbeitszeiten durch den Arbeitnehmer selber durchführen zu lassen (unechte Vertrauensarbeitszeit). Im Falle einer Delegation muss der Arbeitnehmer über die gesetzlichen Bestimmungen über die Zeiterfassung informiert werden, damit eine ausreichende Qualität der Aufzeichnungen bzw. der Daten sichergestellt ist.

Die Verantwortung für die Arbeitszeiterfassung kann der Arbeitgeber jedoch nicht delegieren: Echte Vertrauensarbeitszeit, d.h. der Verzicht auf die Zeiterfassung oder die vollständige Delegation der Kontrollpflicht an den Arbeitnehmer ist nicht mit Art. 46 ArG zu vereinbaren. Es genügt auch nicht, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer anweist, ihm Arbeitszeitüberschreitungen zu melden, ohne je selbst – wenigstens stichprobenweise – die Einhaltung zu überprüfen. Ebenfalls nicht zulässig ist es, Arbeitnehmer nur die verrechenbaren Stunden erfassen zu lassen und die restlichen Stunden als Vertrauensarbeitszeit zu deklarieren.

Wurde die Dokumentation an einen Arbeitnehmer delegiert, muss dieser seine Arbeitszeiten stets korrekt erfassen.

Das Bundesgericht hat kürzlich entschieden, dass eine fristlose Kündigung eines Arbeitnehmers gerechtfertigt sein kann, wenn dieser das Zeiterfassungssystem manipuliert hat (Entscheid vom 2. November 2015, 4A_395/2015). Im vorliegenden Fall zeigte das Protokoll des Zeiterfassungssystems an drei Tagen 20.41, 20.34 und 20.15 Uhr als Zeiten für das Ausstempeln an, obwohl der betreffende Mitarbeiter jeweils zwischen 16.00 und 17.00 Uhr nach Hause gegangen war. Ein «Vergessen» des Ausstempelns konnte ausgeschlossen werden, denn ohne Stempelung am Arbeitstag zeigte das System am Folgetag eine Fehlermeldung bei der Anmeldung an.

Das Bundesgericht betrachtet eine Stempeluhrmanipulation als schwerwiegenden Verstoss gegen die Treuepflicht des Arbeitnehmers, welcher eine fristlose Kündigung zur Folge haben kann. „Mildernde Umstände“ lagen im entschiedenen Fall insofern nicht vor, als das Arbeitsverhältnis lediglich knapp zehn Monate gedauert hatte und die Manipulation wiederholt vorkam. Dass die «erschlichene» Arbeitszeit nur wenige Stunden betrug und die daraus resultierende Lohnforderung geringfügig war, war nicht entscheidend. Ins Gewicht fiel also nicht die Höhe des Schadens, sondern der mit der Schädigung verbundene Treuebruch.

Das Bundesgericht bewertet Verfälschungen der Arbeitszeiterfassung durch einen Arbeitnehmer demnach als groben Treuebruch, welcher die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für den Arbeitgeber unzumutbar macht, sofern keine mildernden Umstände vorliegen. Es stellt ihn auf die gleiche Stufe wie strafbare Handlungen: So ist

anerkannt, dass Straftaten (z.B. Diebstahl), welche der Arbeitnehmer im Rahmen seiner Arbeitstätigkeit oder auch im Privatleben zu Lasten der Mitarbeiter, des Arbeitgebers, aber auch von Kunden oder Dritten begeht, in der Regel einen wichtigen Grund für eine fristlose Entlassung ohne vorgängige Verwarnung bilden können.

IV. FAZIT

Viele Arbeitgeber bleiben auch mit den am 1. Januar 2016 in Kraft getretenen Modalitäten zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter lückenlos zu dokumentieren. Neu ist, dass bei gewissen Kategorien von Arbeitnehmern unter Umständen vollständig oder teilweise auf die Zeitaufzeichnung verzichtet werden kann. Die Dokumentationen der Arbeitszeiten dienen dem Gesundheitsschutz, können aber auch in anderer Hinsicht von Relevanz sein. Die Bedeutung der korrekten Zeiterfassung findet zum Beispiel im Entscheid des Bundesgerichts vom 2. November 2015 ihren Niederschlag, wonach eine fristlose Kündigung eines Arbeitnehmers gerechtfertigt sein kann, wenn er das Zeiterfassungssystem manipuliert – insbesondere wenn dies wiederholt geschieht.

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17. Februar 2016 / Dr. iur. Stephan Fröhlich

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