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OBHUT UND BESUCHSRECHT BEI GEMEINSAMER ELTERLICHER SORGE – WAS WENN EIN ELTERNTEIL WEIT WEG ZIEHT?

lic. iur. Stephan Hinz, Rechtsanwalt unter Mithilfe von Simona Serratore (M.A. HSG)

lic. iur. Stephan Hinz, Mediator SAV und Rechtsanwalt bei Geissmann Rechtsanwälte AG in Baden

Entscheidet sich ein Elternteil dafür, aufgrund eines Jobwechsel, neuer Partnerschaft oder aus sonstigen Gründen vom bisherigen Wohnort wegzuziehen – egal ob er ins Ausland geht oder innerhalb der Schweiz verbleibt –, bedarf dies unter Umständen der Zustimmung des anderen Elternteils. Können sich die Eltern nicht auf eine neue, angepasste Betreuungsregelung einigen, entscheidet die Kindesschutzbehörde oder das Gericht. Der folgende Beitrag bietet eine Übersicht über die Folgen des seit Sommer 2014 geltenden „Zügelartikels“.

I. RECHTSFOLGEN DER ZGB-REVISION PER 1. JULI 2014

Nach der Teilrevision des Zivilgesetzbuches zum Sorgerecht, welche am 1. Juli 2014 in Kraft trat, wurde als neuer allgemeiner Grundsatz die gemeinsame elterliche Sorge festgelegt, der sowohl für verheiratete wie auch geschiedene und getrennt lebende ledige Eltern gilt. Gleichzeitig wurde der sogenannte „Zügelartikel“, Artikel 301a Abs. 1 ZGB, eingeführt, welcher besagt, dass die elterliche Sorge neu auch das Recht einschliesst, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen (dies war unter altem Recht noch eine Frage der Obhut). Der Zügelartikel bestimmt in Absatz 2 weiter, dass sofern die elterliche Sorge gemeinsam ausgeübt wird, es der Zustimmung des anderen Elternteils bedarf, wenn ein Elternteil mit dem Kind ins Ausland ziehen will oder der Wechsel des Aufenthaltsortes (im Inland) erhebliche Auswirkungen auf die Ausübung der elterlichen Sorge und den persönlichen Verkehr durch den anderen Elternteil hat. Mit dieser Vorschrift wollte der Gesetzgeber die Eltern dazu verpflichten, sich vor einem Umzug über eine allfällig nötige Neugestaltung der Kindsbetreuung Gedanken zu machen und diese sofern nötig anzupassen. Bei fehlender Einigkeit entscheidet die zuständige Kindesschutzbehörde bzw. das Gericht.

Seit der Gesetzesänderung hat das Bundesgericht einige Urteile zu diesem Thema gefällt, die bei der Auslegung und folglich Anwendung in der Praxis den Weg weisen.

II. ABHÄNGIGKEIT VON EINER ZUSTIMMUNG

Nebst dem sogenannten klassischen Besuchsrechtsmodell, wo ein Elternteil ganz oder überwiegend Bezugsperson des Kindes ist, wird von getrennt lebenden Eltern auch immer öfters ein Betreuungsmodell gewählt, das den anderen Elternteil mehr einbezieht: Das Kind sieht bspw. den anderen Elternteil nicht mehr nur jedes zweite Wochenende, sondern wird von ihm im Sinne eines „verlängerten Wochenendes“ am Freitag von der Schule abgeholt respektive am Montag hingebracht. In anderen Fällen wird gar im Sinne der sogenannten „alternierenden Obhut“ eine 50/50 Betreuung durch die Eltern gelebt.

Der Zügelartikel schreibt bei einem Umzug innerhalb der Schweiz nur in denjenigen Fällen eine Zustimmung des nicht umziehenden Elternteils vor, in welchen sich der Wohnortwechsel auch tatsächlich auf die Ausübung der Kindsbetreuung auswirkt. Mit dieser Formulierung sind somit nicht nur Fälle von alternierender Obhut erfasst, sondern auch Fälle, wo der besuchsrechtberechtigte Elternteil das Kind nur jedes zweite Wochenende sieht. Ob es im Endeffekt einer Zustimmung bedarf, ist im Einzelfall zu prüfen. Es liegt allerdings auf der Hand, dass in Fällen, wo bspw. der besuchsberechtigte Vater die Kinder nur jedes zweite Wochenende sieht, eine grössere Distanz zwischen den Wohnorten der Eltern eher hinzunehmen ist, als wenn der Vater die Kinder auch noch in den (neuen) Kindergarten bzw. Schule fahren muss.

III. KINDESWOHL ALS MASSGEBENDES HAUPTKRITERIUM

Da bei der Regelung von Kinderbelangen weiterhin das Kindeswohl massgebend ist, stellt sich im Anwendungsfall hauptsächlich die Frage, ob es für das Kind besser ist, mit dem wegziehenden Elternteil mitzugehen oder beim zurückbleibenden Elternteil zu verbleiben. Gestützt auf den Zügelartikel kann also niemandem verboten werden, seinen Wohnort zu wechseln. Allerdings kann es je nach Situation zu einer Neuzuteilung der Obhut kommen. Gemäss Bundesgericht haben je nach Einzelfall das gewählte Betreuungsmodell, die Anzahl Kinder, deren Alter und konkreten Bedürfnisse sowie die zeitliche Flexibilität der Eltern, die konkreten Umstände des Wegzuges und insbesondere die Frage der Entfernung kleinere oder grössere Auswirkungen. Darüber hinaus können insbesondere in Fällen von alternierender Obhut auch Kriterien wie familiäres und wirtschaftliches Umfeld, die Stabilität der Verhältnisse, Sprache und Beschulung, die gesundheitlichen Bedürfnisse des Kindes oder – bei älteren Kindern – der Wille des Kindes zur Festlegung der bestmöglichsten Lösung herangezogen werden; letzteres natürlich nur, wenn er sich mit den Betreuungsmöglichkeiten des Elternteils vereinbaren lässt.

Sofern bis anhin also ein Elternteil die alleinige oder hauptsächliche Bezugsperson des Kindes war, kann in den meisten Fällen davon ausgegangen werden, dass das Wohl des Kindes am besten gewahrt ist, wenn das Kind auch bei dieser Person verbleibt. Dies ist insbesondere bei jüngeren Kindern der Fall, die bspw. noch eher auf die Betreuung durch die Mutter angewiesen sind. Es kann also sehr wohl passieren, dass wenn bspw. eine Mutter mit dem Kind an einen entfernteren Ort zieht, eine Obhutsumteilung aufgrund des Alters des Kindes aber ausser Acht fällt, dieser Wegzug ohne negative Konsequenzen für die wegziehende Kindsmutter bleibt. Bei älteren Kindern hingegen, wo Aspekte wie die Schule, der lokale Sportverein und der Freundeskreis von zunehmender Wichtigkeit sind, kann sich eine Obhutsumteilung eher rechtfertigen. Eine Neugestaltung der Obhutsfrage stellt sich insbesondere auch in den (seltenen) Fällen, wo ein Elternteil offensichtlich nur weit weg zieht, um das Kind dem anderen Elternteil zu entfremden. In diesen Fällen wird regelmässig die Erziehungsfähigkeit des wegziehenden Elternteils in Frage gestellt, mit der Folge, dass die Umteilung des Kindes in Erwägung zu ziehen ist. Ansonsten ist der Grund für den Wohnortwechsel gemäss Bundesgericht aber meistens irrelevant. Schliesslich kann sowohl bei einem Umzug innerhalb der Schweiz als bei einem Wegzug ins Ausland die Sprache am neuen Wohnort ein zu berücksichtigender Aspekt sein: Beispielsweise ist es für ein Kind nicht dasselbe, ob es bereits zweisprachig aufgewachsen ist oder ob es neu in einer ihm fremden Sprache beschult würde.

Um unnötige Auseinandersetzungen zu vermeiden sind die Eltern folglich gut beraten, wenn sie vor einem Wohnortwechsel zuerst gemeinsam prüfen, ob die Ausübung der elterlichen Sorge durch beide Elternteile weiterhin gewährleistet werden kann. Es ist zu berücksichtigten, dass grundsätzlich der besuchsrechtsberechtigte Elternteil sämtliche Kosten für die Ausübung seines Besuchsrechts selber zu tragen hat. Wenn nun plötzlich eine viel weitere Distanz zurückgelegt werden muss, um die Kinder bei der obhutsberechtigten Person abzuholen, ist dies oft mit umfangreichen finanziellen Konsequenzen verbunden. Um dieser unzufriedenstellenden Situation entgegenzuwirken, hat die Praxis einige Abweichungen entwickelt, die sich auch vermehrt durchsetzen: Immer öfters wird von der üblichen Hol- und Bringschuld des besuchrechtberechtigten Elternteils abgekommen und eine Umgestaltung hin zu einer Bring-Bring-Situation vorgenommen (bspw. Mutter bringt das Kind am Wochenende zum Vater, der Vater bringt es am Sonntagabend wieder zur Mutter zurück). Und entgegen dem Grundsatz, dass der be- suchsrechtberechtigte Elternteil die Wegkosten für die Ausübung seines Besuchsrecht allein zu tragen hat, kann in knappen finanziellen Verhältnissen auch schon mal eine Berücksichtigung der entsprechenden Kosten in der Bedarfsrechnung vorgenommen werden.

IV. FAZIT

Der unterdessen geltende Grundsatz der gemeinsamen elterlichen Sorge in Kombination mit Art. 301a ZGB führt dazu, dass der obhutsberechtigte Elternteil nicht mehr nach Belieben seinen und damit den Wohnort des Kindes verschieben kann. Stattdessen wird verlangt, dass man bei potentiell erheblichen Auswirkungen auf die Ausübung der elterlichen Sorge und den persönlichen Verkehr durch den anderen Elternteil erst die Zustimmung des betroffenen Elternteils einholt. Die bisher dazu ergangenen Bundesgerichtsurteile machen deutlich, dass es keine universelle Antwort auf die Frage gibt, in welchen Fällen es bei einem Wegzug innerhalb der Schweiz der Zustimmung des Elternteils bedarf: Es bedarf einer Abwägung der massgebenden Kriterien im Einzelfall. Klar jedoch ist, dass das Wohl des Kindes stets im Vordergrund steht.

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29. November 2017 / lic. iur. Stephan Hinz unter Mithilfe von Simona Serratore (MLaw)

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